Blumen für den Führer
demselben Augenblick im Stadion passierte. Ein »Fernsprecher-Apparat fürs Sehen«.
»Ich wette«, rief jemand, »sobald die Spiele nächste Woche vorüber sind, gibt es Kniefälle in der ganzen Welt. Dann kommen sie alle angekrochen.« Der Redner wandte sich dem Kranken zu, den er besuchte, sprach aber weiter ziemlich
laut. »Die Amerikaner sollten sich schämen, dass sie sich ihre Medaillen von Negern gewinnen lassen.«
Jockel hörte die Flügeltür schlagen. Schwester Anneliese kam herein und lächelte. Sie hielt die Tür für jemand andern auf. Es war der Arzt, der Jockel unterrichten wollte. Leider blickte er nicht her, sondern verschwand sofort hinter dem zugezogenen Vorhang des Schwerverletzten. Anneliese hatte eine Schale in der Hand und ein paar Tücher. Sie folgte ihm.
Es war darüber still geworden, alle äugten zu ihr hin. Man hörte leises Stöhnen, von nun an schwieg sogar der Redner oder flüsterte nur flüchtig. Das Stöhnen wurde deutlicher, kroch unaufhaltsam bis vor das letzte Bett. Jockel tauschte Blicke mit der Erzieherin und Korff. Was nun nach außen drang, war kaum mehr zu ertragen. Die Fantasie erzeugte Bilder des zermalmten Körpers, Jockel sah das Blut, die Knochen, aufgerissene Haut. Wie hatte die Lok den Mann erfasst? Er sah den Vater vor sich, wie er mit einem Hieb ein Stallkaninchen tötete und mit dem Kopf nach unten an den Haken hängte. Ein langer böser Schnitt, der arglos leise klang – und Jockel trotzdem in die Haut gefahren war. Das Gekröse klatschte auf den Boden. Der Vater zwang ihn, immer wieder hinzusehen. Dennoch war er oft, von Mitleid, Angst und Ekel überwältigt, weinend weggerannt und hatte sich bis in die Dämmerung versteckt. Dann gab es freilich »Riemenküsse«, wie der Vater seine Prügel mit dem Gürtel nannte.
Gegen achtzehn Uhr leerte sich der Saal. Korff und die Erzieherin versprachen Jockel wiederzukommen und winkten von der Tür zurück. Anneliese brachte Abendbrot, es waren braune Bratkartoffeln, etwas Wurst und bitterer, rostig roter Hagebuttentee. Die Uhr über der Flügeltür sah aus wie schwarze Pappe, ein dünner Kreis mit einem Dutzend kurzer
Striche klebte auf der Wand. Die beiden Zeiger blieben stur am selben Fleck, solange Jockel sie im Blick behielt. Nur wenn er wieder hinsah, hatte jemand sie ein Stück nach vorn bewegt.
Er konnte lange nicht einschlafen. Lag unruhig horchend da, weil der Schwerverletzte nie ganz still war. Beim Aufwachen mischte sich die quälende Empfindlichkeit mit Furcht um Reni. Etwas hatte sie in seinem Traum bedroht, Jockel wusste nicht, ob es ein Tier gewesen war. Ein paar der Kranken schnarchten, es war schon hell, der Himmel war verhangen. Eine Krankenschwester kam, wanderte von Bett zu Bett und weckte, verteilte Thermometer, schwieg. Es stellte sich heraus, dass Jockel wieder Fieber hatte. Er konnte es hinter den Augen spüren, zum Glück hatte er keine Kopfschmerzen. Er hatte Hunger und wartete aufs Frühstück. Ein Arzt kümmerte sich um den Verletzten hinterm Vorhang. Das Stöhnen und Murmeln störten Jockel nicht mehr. Hatte er sich dran gewöhnt oder war er abgestumpft? Natürlich hielt er Ausschau nach der anderen Krankenschwester: Anneliese. Damit er Reni in ihr wiedersah. Ein seltsamer Gedanke. Dann war da noch der Unterricht des Arztes. Dass beides auseinanderstrebte: Reni und Amerika, tat schneidend weh.
Als dann der Arzt tatsächlich kam, noch vor dem Frühstück, kriegte Jockel einen schlimmen Schreck. Es ging so flink: »Los, Junge, aus dem Bett, mach schnell!« Er blickte prüfend um sich. Der Arzt fasste Jockel fest am Arm und führte ihn wie einen Sträfling durch den Saal. Jockel stolperte beinah. Der Mann stieß ihn in das Geviert des Schwerverletzten. »Keinen Mucks, hast du gehört?« Er zog den Vorhang zu. Dann hörte Jockel draußen feste Schritte näher kommen. Er starrte auf den Mann im Bett, sah dessen Kopf – und nichts
Besonderes, kein Blut. Für einen Augenblick war er sogar enttäuscht.
»Welches Bett?«
»Dort hinten.«
»Wo ist der Bengel denn?«
»Ich weiß es nicht.«
»Wie bitte?«
»Denken Sie, wir binden die Patienten fest?«
»Werden Sie nicht frech! Wo ist die Toilette?«
»Im Flur. Links, die dritte Tür.«
Die Schritte entfernten sich. Jockel holte wieder Luft. Er hörte, dass der Arzt dem Polizisten folgte. Geschrei im Flur, dann eine Stille aus Papier, die jeden Augenblick zerreißen konnte.
Der Kranke in dem Bett bewegte sich, atmete schwer.
»Junge?« Der
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