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Blumen für den Führer

Titel: Blumen für den Führer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Seidel
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machte ihr Angst, besonders Untertauchen. Das hatte mit dem Vater zu tun, mit dem Brief des Oberstleutnants Eyssen. Dass der Vater infolge eines Unglücks dreißig Stunden eingeschlossen war. Dreißig Stunden warten auf den Tod. Dreißig Stunden Dunkelheit und Enge. Wassersarg. Aber der Lehrer hatte sie gezwungen. »Schwimmen ist gesund, na los!« Doch sie war stur geblieben. »Angstliesel!« Dreißig Stunden warten aufs Ersticken. »Jammertrine! Doofe Schisserin!«
    »Darauf können wir doch stolz sein, oder etwa nicht?«, sagte der Beamte, ohne aufzuschauen. Er deutete ungenau zum Fenster.
    Waltraut brauchte einen Moment, um zu verstehen, was er meinte.
    »Mein Junge ist bei den Vierern mit Steuermann. Er rudert, seit er zehn ist. Gibt nichts Höheres für ihn.«

    Waltrauts Zunge klebte, aber sie scheute sich, erneut nach einem Glas Wasser zu fragen. Sie nickte lächelnd. Entdeckte das Parteiabzeichen auf dem Revers der Uniform. Die dunklen Augen des Beamten waren freundlich, seine Stimme hatte etwas Mädchenhaftes. Er blätterte und schrieb, hatte ihren Wunsch bestimmt vergessen. Sie merkte plötzlich, wie sich ihre Knie hin und her bewegten, gleichsam mechanisch, in schnellem Tempo. Die Füße tippten dazu lautlos auf den Boden.
    Das war die Ungewissheit. Dass sie nicht wusste, was mit ihr passierte, warum sie hier war, welche Fragen man ihr stellen würde. Oder wurde sie mit jemand anderem verwechselt?
    »Bin ich eigentlich verhaftet?«, fragte sie.
    Der Mann blickte hoch. »Oh, das weiß ich leider nicht … Ihr Wasser! Ich bitte vielmals um Entschuldigung.« Er legte seinen Stift weg, stand auf und öffnete die Tür.
    »Nur einen Augenblick.«
    Bevor Waltraut Danke sagen konnte, war er draußen. Nach nur einer Minute kehrte er mit einem großen Glas zurück. Sie war ihm wirklich dankbar und sagte es ein paarmal. Er nahm wieder seine Arbeit auf. Im Hof johlte die Menge, der Reporter krächzte. Waltraut fühlte sich mit einem Mal so müde, dass sie mit Absicht den Rücken an die harte Lehne pressen musste, um sich wach zu halten. Das Glas war leer. Ohne ein Geräusch stellte sie es auf die Dielen, ein Stück von sich entfernt, nah an die Wand, aus Angst, dass sie beim Aufstehen, wenn man nach ihr riefe, dagegen treten könnte.
    »Aber junge Frau, Sie müssen doch wissen, warum Sie hier sind«, sagte der Beamte plötzlich.
    »Nein, ich weiß es nicht.« Sie sagte ihm, wo sie gearbeitet hatte und was der Grund war, dass sie vorübergehend in Fulda übernachten musste.

    Der Mann schaute sie prüfend an. »Jemand hat Sie angezeigt.«
    »Aber wer denn?« Über Kiank und Frau Misera schwieg sie.
    Er ließ die Arbeit wieder liegen und stand auf. »Wissen Sie was, ich frage einfach für Sie nach. Das wollen wir doch mal sehen.«
    Er fasste an die Klinke, sah jedoch im selben Augenblick das leere Glas am Boden. Bevor Waltraut reagieren konnte, griff er danach.
    »Und ein neues Glas Wasser bekommen Sie auch. Das wäre doch gelacht, nicht wahr.« Er ging hinaus und schloss die Zimmertür.
    Es wurde überraschend still. Jetzt erst wurde Waltraut klar, dass der Radioapparat im Hof nicht länger quäkte. Sie hörte Tauben gurren, leise Stimmen aus einem Nebenzimmer, noch einmal kurz die Schreibmaschine. Dann eine Pause, in der sie nur das Rauschen ihres Bluts vernahm, den kurzen Herzschlag und ihren Atem in der seltsam engen Brust.
    Sie war zu aufgeregt, um still zu sitzen. Stand auf und ging zum Fenster. Der Hof war nur zur Hälfte einsehbar. Dort unten standen ein paar Bienenstöcke, sechs helle Kästen in einer leicht gekrümmten Reihe. Ein Mann mit Kopfnetz und Rauchpumpe stellte eine Wabenplatte auf den ausgezogenen Einlauftisch und stieß Bienen mit einer Feder von den Waben ab. Es war ein schönes Bild. In das sich etwas mischte, ein Geräusch, so fremd und überraschend wie ein Kobold, ein Gespenst. Was Waltraut hörte, war ein Schrei, ein Menschenschrei, der tief aus dem Gebäude kam. Ein Schrei, der wie eine Nadel durch die Zimmerwände stach, durch Decken, Böden, Balken, Dielen. Im selben Augenblick wurde die Tür geöffnet. Der Beamte kam zurück, er lächelte verlegen und
setzte sich an seinen Schreibtisch. Er nahm den Bleistift in die Hand und zeigte auf die Spitze.
    »Es stimmt. Man hat Sie angezeigt.«
    »Und wer?«
    »Da bin ich nicht befugt …«
    »Ich weiß es aber.«
    »Na, sehen Sie mal.«
    »Und was geschieht mit mir?«
    »Sie warten.«
    »Hier bei Ihnen?«
    »Lieber hier als anderswo.« Er schaute

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