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Blumen für den Führer

Titel: Blumen für den Führer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Seidel
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aus wie übergroße, bunte Käfer.
    »Hältst du noch einmal an?«, bat Reni. »Weil wir es spielen müssen. Wir müssen es üben, das Abschiednehmen. Wir spielen es ein paarmal. Damit wir wissen, wie es nachher ist.« Sie dachte an den Blumenstrauß im Stadion. »Für die Begegnung mit dem Führer habe ich auch geübt … mit mir allein. Ich habe mir vorgestellt, wie es wohl sein wird …«
    »Hat es geholfen?«, fragte er und bremste ab.
    »Ein bisschen«, sagte sie. »Ich will, dass wir uns in die Arme nehmen, Jockel.« Sie zeigte auf den Saum einer jungen, leuchtend grünen Fichtenschonung. »Schau, da vorne sieht uns niemand mehr …«
    Jockel lenkte den Wagen in einen kurzen Wirtschaftsweg und machte den Motor aus. Sie gingen ein kleines Stück auf dem Weg, dann nahm Reni Jockel wortlos in den Arm. Sie atmete seinen Duft und hielt sich an ihm fest. Und an diesem Augenblick, den sie nie vergessen wollte. Es schien ihr tröstend,
dass sie ihn noch ein letztes Mal würde an sich drücken dürfen, wenn sie später wirklich Abschied voneinander nehmen mussten. Sie bot ihm das Gesicht, er küsste sie sehr liebevoll und weich, seine Lippen waren warm und trocken. Sie musste nicht mal weinen.
    Auf dem restlichen Stück der Autofahrt fühlte Reni sich für Momente federleicht. Die hohen Buchenkronen tauchten auf, die Stalldächer und der Giebel des Herrenhauses. Jockel fuhr langsamer. Reni sah ihm an, dass er Bedenken hatte, wie man auf die Autodiebe reagieren würde. Als sie am Teich vorüberfuhren, spähten beide durch die Scheiben. Jockel bremste. Vor der Hofeinfahrt hielt er den Wagen an. Es wurde still.
    Reni öffnete die Tür, stieg aus und sah im Augenwinkel, wie Jockel ebenfalls die Tür aufdrückte. Sie ging zum Heck des Autos und blickte in den Hof, aber da war niemand. Es war verwunderlich. Jockel war ausgestiegen, schloss die Tür und ging ein Stück zur Seite. In dem Moment schrie eine Männerstimme: »Das machst du nicht noch mal, Kerlchen!« Fast gleichzeitig gab es einen fürchterlichen Knall, sehr laut, ganz in der Nähe. Reni fiel auf die Hände und sah, wie Holzstaub und kleine Holzstücke aus der Stallwand flogen. Jockel hockte schon am Boden.
    »Aufhören!«, schrie sie.
    Der Chauffeur hatte ihnen hinter einer Mauer aufgelauert. Jetzt zielte er von dort ein zweites Mal auf Jockel. Reni stand auf und stellte sich dazwischen.
    »Zur Seite, Mädchen!«
    »Lieber bin ich tot!« Sie drehte sich zu Jockel. »Los, schnell, lauf weg!«
    Wie auf Befehl lief Jockel los, ein Stück geduckt, dann rannte er, der Stallwand folgend, zu der Wiese, hinter der die
Hecke lag, in der er sich hatte verstecken sollen. Reni hörte seine Schritte leiser werden.
    »Ich krieg dich noch!«, brüllte der Mann. Die Mündung seiner Flinte senkte sich zum Boden.
    Reni zeigte auf den Mercedes . »Es ist dem Auto nichts geschehen, es steht da, wo es hingehört, und ich bin die Tochter des Besitzers!«
    »Lass gut sein, Hinrichs!« Es war der Vater, der drüben aus dem Haus getreten war.
    »Er hat auf uns geschossen …!«, rief Reni.
    »Auf ihn «, verbesserte der Vater. »Der Junge ist ein Dieb … Wir gehen rein.« Er gab dem Mann einen Wink. Der trat nun ganz aus seiner Deckung, ging zu dem Wagen und lief einmal rings herum. Dann öffnete er beide Türen, lehnte das Gewehr an eine Mauer und setzte seine Inspektion im Innern fort.
    »Renata, kommst du bitte?«, sagte der Vater in einem etwas schärferen Ton. Er ging ins Haus zurück.
    Reni sagte Ja und folgte ihm. Sie fühlte sich mit einem Mal, als würde es nun doch eine Enttäuschung für sie geben. Sie hätte nicht mit Jockel fahren dürfen. Der Vater war ihr sicher böse. Aber es war nun mal geschehen. Sie ging ins Haus und wartete, dass er sie in sein Arbeitszimmer bat, um mit ihr zu reden. Aber nichts geschah. Sie durfte auf ihr Zimmer gehen. Das fühlte sich noch schlimmer an als eine ordentliche Strafe, weil sie nicht wusste, was der Vater nach dem Zwischenfall empfand und ob er ihr verzeihen würde.
     
    Es war für Reni eine Riesenüberraschung und Erleichterung, als sie vor dem Einsteigen in Fulda in der Bahnhofshalle Lydia von Treschke und ihren Gatten sah. Der Vater hatte ihr verheimlicht, dass sie gemeinsam nach Berlin reisen würden,
um dort am Donnerstag an der Soiree der Gräfin teilzunehmen und am Sonntagabend der olympischen Abschlussfeier beizuwohnen. Bei dem Besuch der Soiree handele sich um nichts weniger als »Renatas Initiation«, hatte der Vater stolz

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