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Blumen für den Führer

Titel: Blumen für den Führer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Seidel
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adrett, bitte verstehe mich nicht falsch. Wir werden
uns jedenfalls richtig Mühe geben, oder? Ich habe versprochen, dass du das mit Bravour meistern wirst.« Er sah sie an und hob die Brauen. »Die Welt, Reni, richtet ihr Augenmerk auf unseren Führer, wenn er die Eröffnungsrede hält. Und so etwas wird die Welt noch nie gesehen haben, das verspreche ich dir.«
    Sie versuchte, es sich vorzustellen. Dass es ein wirklich besonderes Erlebnis wird, an das sie sich ihr Leben lang erinnern kann. So hatte Frau Misera es ein paarmal gesagt. Weil auch sie selbst, Reni, ganz im Zentrum der Welt stehen werde. Und sei es nur für einen Augenblick. Ihr wurde komisch zumute bei dem Gedanken. Irgendwie konnte sie noch nicht glauben, dass sie denselben Mann persönlich treffen sollte, den sie bewunderte und dessen Zeitungsfotografien sie heimlich gesammelt und angeschaut hatte. Es war schwer zu glauben, dass es ihn wirklich gab und dass er ein richtiger Mensch aus Fleisch und Blut war. Nein, jetzt denkst du Unsinn, schalt sie sich. Natürlich gibt es ihn, so wie es mich gibt und alle anderen Menschen auch, die ihn lieben und bewundern. So, wie es den Doktor Schweitzer wirklich gibt.
    »Der Führer ist ein Menschenfreund wie Doktor Schweitzer«, sagte sie. »Wenn er die ganze Welt einlädt, hier bei uns in Deutschland der Olympiade beizuwohnen.«
    Der Vater nickte. »Du darfst bei all deinen sympathischen Interessen und Vorlieben nicht vergessen, dass die Menschen keineswegs alle gleich sind.« Er schlang die Hände ineinander und blickte, während er überlegte, zur Zimmerdecke. »Man muss einmal behutsam darüber nachdenken. Die Idee der Gleichheit ist abstrakt. Konkret springen uns ja die Unterschiede zwischen den Menschen geradezu ins Auge. Wir haben nicht dieselbe Hautfarbe, nicht dieselbe Statur, Kopfform,
wir sind natürlich auch nicht alle gleich schön. Schau dir deine Mitbewohnerinnen an, sie sehen keineswegs aus wie du, und das weißt du auch. Du fällst da sehr heraus, Reni. Die Menschen sind also nicht gleich, sie denken nicht gleich, ihre rassischen Ursprünge und kulturellen Vergangenheiten sind überaus verschieden. Neben der universellen Liebe, von der dieser Doktor Schweitzer spricht, hat das innere verbindende Wesen unseres Volkes eine viel größere Bedeutung. Wenn wir also von Gleichheit reden, werden wir damit die Gleichheit aller wahren Deutschen meinen, und dies ist eben genauer als die diffuse Gleichheit aller Menschen in der Welt, nicht wahr?«
    Sie nickte schwach.
    »Ein so ungewöhnlich hübsches Gesicht wie deines kann es zum Beispiel nur in unserem Volk geben und nicht in Russland, das leuchtet jedem ein«, setzte er hinzu.
    Sie blieb sehr aufmerksam. Alles, was er sagte, erschien ihr klug und gebildet. Der Herr Graf, ihr richtiger Vater, war ein studierter Mann, das wusste sie von Frau Misera. Er war Historiker von Beruf. Er vermochte in die Tiefen der Zeit zu blicken, in die Vergangenheit der Arche Noah, die Zeit Jesu, Alexanders, Napoleons und all der anderen Großen.
    »Fräulein Knesebeck sagte, dass zwischen der Unterschiedlichkeit der Völker und Rassen und der Gleichheit aller Menschen die Idee eines Weges liegt … ein Weg, für den wir uns entscheiden können oder nicht. Die Verschiedenheit ist die Stelle, an der wir jetzt auch stehen. Die Gleichheit ist das Ziel, die Zukunft.«
    »Fräulein Knesebeck«, sagte der Vater halblaut. »Soso.«
    »Sie ist ein bisschen meine Freundin.«
    Er stimmte wortlos zu und ließ ein wenig Zeit verstreichen.
Dann sagte er: »Liebes Kind, ich lasse dich nun wieder nach Hause bringen, weil ich dringende Verpflichtungen habe. Frau Misera hat mir gestattet, dich übermorgen noch einmal abholen zu lassen. Bist du einverstanden?«
    »Aber ja, Herr Graf«, sagte sie freudig und stand auf. Wie gerne hätte sie »Vater« gesagt. Aber das wagte sie noch nicht.
    »Du darfst dir eine Fotografie aussuchen und mitnehmen. Dort auf dem Schreibtisch liegen Umschläge. Bitte, nimm dir einen.«
    Sie machte einen Knicks, den er nicht mehr sah, weil er bereits zur Tür gegangen war. Sie wählte das Bild, auf dem die Mutter den hübschen Hut trug. Sie legte es in ein Kuvert und folgte dem Herrn Graf nach draußen. Im Stillen wünschte sie sich, er würde sie selber bitten, »Vater« zu sagen, statt Herr Graf. Sie hatte noch nie in ihrem Leben »Vater« gesagt, so wie es Kinder nun mal tun. Es gab nur den erfundenen.
    Im Hinausgehen sagte er: »Du musst dir diese Tage einprägen.

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