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Blumen für den Führer

Titel: Blumen für den Führer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Seidel
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war der Mittelpunkt. Die Erzieherinnen hatten unter den Fenstern Platz genommen. Der Vater, Frau Misera und der Offizier aus Berlin, der Reni vor zwei Tagen den Blumenstrauß gegeben hatte, saßen vorne an den zwei Tischen, die von Herrn Kiank mit Fahnen dekoriert worden waren. Rot-weiße Tücher bedeckten die Tische und hingen vorne bis auf den Boden herunter. Auf der Fensterseite stand ein Blumenkübel mit dicht gewachsener Wegwarte und blauen und roten Astern. Davor lehnte, leicht nach hinten gekippt, das große Bild des Führers aus Frau Miseras Zimmer.
    Reni fühlte sich nicht wohl. Es war nicht schlimm, aber da war eine lästige Unruhe im Bauch, beim Atmen, und ihre Hände zitterten leicht. Die vielen fremden Blicke brannten. Sie mochte es nicht, so furchtbar wichtig zu sein.
    Frau Misera stand auf und klatschte in ihrer üblichen Manier in die Hände. Es wurde sofort still.
    Reni konnte ihren Herzschlag hören.
    »Guten Morgen!« Frau Misera blickte streng. »Nachdem Reni nun gestern Abend aus Berlin zurückgekehrt ist und sich ein bisschen ausgeruht hat, habe ich mich entschlossen, das von ihr in Berlin Erlebte für uns alle noch einmal angemessen zu würdigen. Ich möchte zum Anlass dieser kleinen Feier auch Herrn Hauptsturmführer Fernau begrüßen, der extra aus Berlin mit hergekommen ist und unserer Kameradin Reni bei der Begegnung mit dem Führer beigestanden hat.« Sie nickte dem Offizier zu, der ihren Blick freundlich erwiderte.
    »Liebe Kameradinnen«, fuhr die Leiterin fort, »der Herr Graf hat uns ja bereits mehrfach darauf hingewiesen, dass Renis außerordentliches Erlebnis von weit größerer Tragweite ist, als die bloße Geste des Blumengeschenks an unseren Führer vermuten lässt. Der Führer hat vor, unser Haus endlich in die Bewegung einzubinden, für die wir alle bereit sind, unser Bestes zu geben.« Sie machte eine Pause, ihr Blick streifte durch den Raum und zu den Fenstern.
    Reni wollte gerne mithelfen und ihr Bestes geben. Sie war von Herzen bereit dazu, nur nicht im Moment, nicht gerade hier und jetzt in Ulmengrund. Viel lieber wäre sie schon mit ihrem Auszug beschäftigt. Sie war so gespannt, wie es auf Gut Haardt sein würde, wenn sie dort als Tochter mit dem Vater lebte. Als Komtess. Sie freute sich so sehr darauf. Wie schön es sein würde, durch die Gärten und Felder zu streifen, sich in den Remisen Verstecke zu suchen oder die Pferde kennenzulernen, hundert schöne Sachen warteten auf sie.
    »Ich bin selber sehr gespannt, was uns Reni jetzt berichten wird«, sagte Frau Misera.
    Reni lächelte verlegen und stand auf.
    »Möchtest du bitte?«
    Sie wollte nicht, aber sie nickte trotzdem, weil sie wusste, dass es von nun an Pflichten für sie gab. Leichte ebenso wie schwere.
    »Ich erwarte natürlich«, rief die Leiterin über die Mädel hinweg, »dass bei niemandem Gefühle wie Neid oder Missgunst aufkommen. So etwas gehört sich nicht.«
    Reni holte Luft.
    Ihre Hände waren schwer, in ihrer Brust rumorte es. Sie öffnete den Mund und wollte etwas sagen. Aber die Zunge war zu groß, sie hatte kaum mehr Platz. Sie schluckte zweimal. Der
Doktor Schweitzer fiel ihr ein, und wie schwer es ihm gefallen war, sich zu Beginn im Urwald zu behaupten. Sie dachte an die Hitze, an den Dauerregen, an das mangelnde Wellblech, an die Negerbuben. Im selben Augenblick brach Beifall los.
    Die Erzieherinnen klatschten und ebenso der Vater, der Herr Hauptsturmführer und die Leiterin, die Mädel sowieso; alle klatschten, als hätte Reni einen olympischen Wettstreit gewonnen. Dabei hatte sie nur einen hübschen, festen Strauß von blauer Wegwarte und Astern in der Hand gehalten, weiter nichts. Sie wurde rot, sie loderte. Die Hitze kroch aus jeder Pore. Die Erinnerung stieg in ihr hoch. Sie sah sich auf dem großen Stadionsbalkon, sah, wie Herr Fernau mit den Blumen auf sie zukam. »Des Führers Lieblingsblumen«, sagte er. Sie fühlte wieder das Gewicht des Straußes, es lag wie Blei in ihrer Hand vor lauter Angst. Sie fühlte seine Hand an ihrer Schulter, die sie nach vorne schob, quer durch die Menschenmenge, in der sich vor ihr eine Schneise bildete, die plötzlich breiter wurde, offen. Der Führer stand am Mikrofon und redete, erhob die Hände. Der Klang zerbrach in hartes Krachen, das aus der Ferne und aus allen Richtungen wie Husten aus den Wolken fiel. Sie sah das Menschenmeer, hörte dessen tausendfaches Raunen und Rauschen, als der Führer schwieg, und dann die Stille in dem Stadion, die sie

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