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Blumenfresser

Blumenfresser

Titel: Blumenfresser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: László Darvasi
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genährt wurden. Irgendwelcher Gewissheiten konnte er sich kaum entsinnen. Die berühmten Ereignisse konnte er sich jederzeit in Erinnerung rufen, die Iden des März, die Tage der Bildung der Unabhängigkeitsregierung, er erinnerte sich an die mehr und mehr beunruhigenden Nachrichten aus dem Süden, an die Schlacht von Pákozd, doch es kam ihm vor, als hätte er den Strudel der Begebenheiten aus Büchern gelernt, er war in keiner Weise fähig, sich selbst darin zu erblicken. Er hatte keine Ahnung, was er an den Iden des März getan hatte, wo er gewesen war, mit wem er gesprochen hatte, am liebsten hätte er geglaubt, er habe sie mit Klara zugebracht, sie hätten das Bett gar nicht verlassen und vielleicht auch damals den ganzen Tag im Halbdunkel des Schlafzimmers geredet, anstatt, wie es ja doch wahrscheinlich war, auf der düsteren, glücklichen Straße den Hut in die Luft zu werfen und Fremde zu umarmen. In der hintersten Ecke einer Schublade fand er eine ausgefranste, weinfleckige Kokarde, unsicher kramte er in seinen Erinnerungen, vielleicht hatte er sie tatsächlich angesteckt und getragen. Er wusste nicht, wie er die Nachricht aufgenommen hatte, dass Jelačić nach dem Überschreiten der ungarischen Grenze mit seinen Truppen Richtung Norden vorrückte. Doch er dachte, dass der furchtbare Schoß der Geschichte den Ungarn in diesem rauschhaften und beispiellosen Prozess, den sie durchlebten, eine nie gekannte Schönheit gebar. Diese bewundernswürdige Schönheit begleitete die juristischen und politischen Entscheidungen, den Straßenlärm, die Aufmärsche, das Säbelrasseln, den Schnapsdunst der Rekrutierungen, die Lynchmorde und Pogrome, den Anblick von in Flammen aufgehenden Gehöften, in denen bis dahin Serben, Kroaten oder Ungarn gewohnt hatten. Und wenn er als Anhaltspunkt für die Beschreibung und Benennung dieser Schönheit einen Vergleich suchte, beharrte er nicht darauf, dass dies so und nicht anders hatte sein müssen, dass gesellschaftliche Notwendigkeiten, gut umschreibbare Ursachen und Wirkungen dorthin geführt hätten, sondern er sah gerade Klara als Beispielan. Sie war in anderen Umständen, vielleicht gerade im siebten Monat, als ihr ein Zahn gezogen werden musste. Seit Tagen hatte sie über entsetzliche Schmerzen geklagt. Doch sie konnte nicht sagen, welcher Teil ihres Körpers dafür verantwortlich war, sie musste schlucken, ihre Augen waren voller Tränen, sie litt wirklich schwer. Imre war in Aufruhr, Klaras Krankheiten jagten ihm immer Angst ein. Schließlich stellte Doktor Schütz fest, dass ein schlechter Zahn der Schuldige war, und riss ihn mit einer furchterregenden Zange aus. Auch nach langen Überredungsversuchen hatte Klara nicht erlaubt, dass er ihr ein Betäubungsmittel gab. Imre stand neben ihnen und beobachtete die Prozedur, und weil er mehr Angst hatte als seine Frau, hielt sie seine Hand. Dann schaute er nur noch. Schon allein die Geräusche des Zähneziehens waren schön, Klaras stoßweises Stöhnen, das Knirschen, das aus ihrem Mund drang, die Tropfen kalten Angstschweißes auf ihrer Stirn, auch, dass sie dann tagelang lispelte, und als sie sich später, nach Tagen liebten, keuchte sie mit schrillerer, mädchenhafterer Stimme. Einmal flüsterte sie ihm ins Ohr, dass sie immer noch Schmerzen habe, sie bestreite nicht, dass der Zahn schlecht gewesen sei, und doch habe ihr nicht der Zahn wehgetan, nein, denn der Schmerz sei geblieben. Auch an diesen anhaltenden Schmerz dachte Imre, wenn er an die Revolution dachte.
    Jemand trommelte gegen das Tor, als wolle er es einschlagen, es war Herr Schütz. Imre grübelte noch immer über seinen »weißen Bruder«. Der Arzt verteidigte Adam stets, die Leidenschaftlichkeit, die er dabei an den Tag legte, machte ihn verdächtig, er wurde laut und gestikulierte, wenn er einen ungerechtfertigten Angriff gegen den Jungen argwöhnte. Imre verstand nicht, warum er so bedingungslos für ihn eintrat. Der Alte tunkte Kekse in seinen Likör, leckte sich die Finger, er schob Imre eine zerknitterte Daguerreotypie hin, das ist er, sieh ihn dir nur an, schnaufte er. Eine undeutliche Gestalt, das kalkweiße Gesicht entschlossen und doch hilflos, Imre glaubte sich selbst zu erblicken, den achtzehnjährigen, scharfsinnigen, doch schüchternenBurschen, der sich eines Tages entschloss, sein Glück in Europa zu versuchen, weil er sonst zu Hause ersticken würde. Doch dieser Junge ging nirgendwohin. Der strich nur immer um sie herum! Missmutig schob er das Bild

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