Blut für Blut: Thriller (German Edition)
wieder mit Tante Karen gestritten, weil meine Tante häufig der Meinung war, dass Mutter zu impulsiv war. Aber meine Mutter hat sie beide gemocht, und ich bin mir sicher, dass sie in ihrem tiefsten Inneren meine Mutter auch gemocht haben.«
»Wie war das Verhältnis zwischen Ihrer Muter und dem Lebensgefährten Ihres Vaters – Liam?«
Marie-Louise rutschte angesichts der Frage nervös hin und her. Die Bewegung war kaum wahrnehmbar, entging Rebekka jedoch nicht. Ganz unproblematisch konnte ihr Verhältnis demnach nicht gewesen sein, ungeachtet, was Marie-Louise sich zu antworten entschloss.
»Das war in Ordnung«, antwortete sie neutral.
»Warum nur in Ordnung?«, erdreistete sich Reza zu fragen, und Marie-Louise zuckte mit den Schultern, den Blick starr auf ein größeres abstraktes Ölgemälde hinter Rebekka und Reza gerichtet. Es war Rebekka aufgefallen, sobald sie das Wohnzimmer betreten hatten. In einer Ecke stand TSL. Thomas Schack Lefevre?
»Es war schon ein bisschen schwierig, ja. Meine Eltern mochten sich ja immer noch gern, obwohl sich Vater als schwul geoutet hatte. Das konnte man deutlich spüren, und Vater stand sozusagen zwischen Mutter und Liam. Sie wollten ihn beide. Aber ich glaube, so ist das in den meisten Scheidungsfamilien, wenn ein Dritter ins Spiel kommt.«
»Sie haben vorhin gesagt, dass Ihre Tante Karen neidisch auf Ihre Mutter war. Können Sie vielleicht genauer erklären, was Sie damit gemeint haben?«, fragte Reza, und auf Marie-Louises Hals tauchten sofort flammend rote Flecken auf.
»Ich habe damit nichts Besonderes gemeint.« Sie klang verärgert und strich sich müde über die Augen und fügte hinzu: »Sie haben gefragt, und ich habe geantwortet und gleichzeitig betont, dass ich mir nicht vorstellen kann, dass jemand, den wir kennen, meiner Mutter so etwas antun könnte. Das meine ich von ganzem Herzen. Meine Tante hat größere Angst, sich ins Leben zu stürzen. Die hatte meine Mutter nicht. Es war eine ganz normale Eifersucht unter Geschwistern. Thomas ist auch sehr viel wilder, und darum beneide ich ihn hin und wieder, während ich dann wieder ganz zufrieden bin, so zu sein, wie ich bin.« Sie stand auf, ging zum Fenster und starrte durch die blanken Scheiben auf den Rasen hinaus.
»Soweit wir das verstanden haben, gab es auch Streitigkeiten um den Hof in Schweden.«
Marie-Louise drehte sich zu ihnen um und sah sie verblüfft an.
»Woher wissen Sie das?«, fragte sie und seufzte tief. »Meiner Mutter und meiner Tante gehört der alte Hof der Familie gemeinsam. Sie haben ihn geerbt, als meine Großeltern gestorben sind, und manchmal ist es nicht leicht, ihn sich zu teilen, nicht zuletzt weil wir, das heißt Thomas und ich, den Hof gerne nutzen und Tante Karen keine Kinder hat. Das gibt dann Anlass zu kleinen Unstimmigkeiten. Aber mehr ist das auch nicht. Das hat Ihnen bestimmt Vater oder Liam erzählt. Liam hat Tante Karen nie gemocht, und mein Vater meint immer das Gleiche wie Liam.«
Marie-Louise ging zu dem Regal hinüber und öffnete eine Tür. Sie holte ein dunkelblaues Fotoalbum heraus und reichte es Rebekka.
»Hier ist der Beweis für unsere perfekte Kindheit.«
In ihrer Stimme mischten sich Wehmut und Ironie, und Rebekka war verwirrt, dass sie das noch einmal betonte. Was fühlte diese blasse, introvertierte Frau eigentlich?
»Wir würden uns das Album gerne ausleihen, wenn das für Sie in Ordnung ist«, sagte sie, und Marie-Louise nickte lediglich. Sie sah müde aus. Ihre helle Haut war während des Gesprächs noch blasser geworden, und unter den traurigen Augen waren dunkle Ränder.
»Was ist mit Ihrer Arbeit?«
»Man hat Verständnis. Ich arbeite als Dolmetscherin in der französischen Botschaft und bin dort seit fast fünfzehn Jahren angestellt. Mein Chef sagt, dass ich mir die Zeit nehmen soll, die ich brauche.« Sie lächelte sie müde an.
»Hören wir auf für heute.« Rebekka reichte Marie-Louise ihre Karte. »Sie können uns jederzeit anrufen, wenn Ihnen noch etwas einfällt.«
Marie-Louise nickte erneut, während sie sich geistesabwesend mit der schmächtigen Hand durch das Haar fuhr. Eine Welle des Mitgefühls stieg in Rebekka hoch.
Sie hätte die Frau gerne herzlich umarmt, ihr gesagt, dass alles wieder gut werden würde, dass sie den Mut nicht sinken lassen durfte. Es klingelte laut, und alle drei fuhren zusammen. Marie-Louise stand auf, um zu öffnen, und Rebekka und Reza folgten ihr. Eine Frau trat ein, und Rebekka erkannte sofort die
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