Blut für Blut: Thriller (German Edition)
hatte, und gierig von den Keksen gegessen. Ingwerkleckse nenne ich sie, hatte sie lachend gesagt, und sie hatten sich unbeschwert unterhalten, vor allem natürlich über die Hunde, aber auch über Politik und Kunst, während die Stunden vergangen waren.
All das war jetzt vorbei. Kissi war tot, ermordet. Das stand in der Zeitung, das sagten sie im Radio und in TV2 News, und doch hatte er das Gefühl, als würde er ihren Tod nicht begreifen, als wäre das alles nur ein böser Traum. Das Telefon klingelte weiter, es musste einer der anderen aus dem Cairnklub sein, und er erhob sich mühsam aus dem Bett. Molly sprang auf und folgte ihm ins Wohnzimmer. Milica, die träger veranlagt war, blieb auf der Bettdecke liegen. Tibor legte die Hand auf das Telefon und spürte, wie sich die Vibrationen des Klingeltons in seinem Körper ausbreiteten. Er nahm den Hörer ab und meldete sich: »Ja.« Seine Stimme klang belegt und ängstlich.
»Hier ist Søren Simonsen. Ich bin von der Mordkommission der Polizei Kopenhagen. Spreche ich mit Tibor Budzik?«
Ein seltsamer Laut entfuhr Tibors Kehle.
»Hallo, sind Sie Tibor Budzik?«
»Ja«, flüsterte er heiser. Molly bellte plötzlich laut und dröhnend, als witterte sie eine Gefahr, und er versuchte, sie zu beruhigen, indem er ihr sanft die Ohren kraulte, doch es half nicht.
»Wir möchten Sie bitten, zu einer Befragung ins Präsidium zu kommen, da wir erfahren haben, dass Sie ein guter Bekannter von Kissi Schack waren.«
Woher wussten sie das? Ein guter Bekannter. Das Wohnzimmer drehte sich um ihn, die Geräusche von der Straße nahmen an Intensität zu, sein Hals wurde ganz trocken, er konnte kaum antworten.
»Ja, sicher.«
»Würde es Ihnen heute um eins passen?«
»Hmmm.«
»Gut, dann halten wir das fest. Melden Sie sich einfach an der Rezeption im Polizeipräsidium.«
Als Tibor kurz darauf den Hörer auflegte, zitterte er am ganzen Körper. Er torkelte zurück zum Bett und kroch unter die Decke. Molly sprang ihm fröhlich hinterher, sie hatte einen Ball in der Schnauze und wollte spielen, aber er konnte nicht. Er konnte nur mit geschlossenen Augen ganz still daliegen.
____
Sejr Brask führte das Glas mit einer etwas zu schwungvollen Bewegung an die Lippen, sodass er sein verwaschenes hellblaues Hemd mit dem kalten Bier bekleckerte. Er sah sich schnell um, doch niemand schien sein kleines Malheur bemerkt zu haben; die wenigen Stammgäste, die bis jetzt da waren, hingen alle mit halb geschlossenen Augen über ihrem eigenen Bier. Glücklicherweise, denn seine Hände zitterten immer so unkontrolliert, bis er sein erstes Bier getrunken hatte.
Die Lanterne war eine der wenigen altmodischen Kneipen, die es noch gab, hier kam das Bier aus dem Kasten oder dem Kühlschrank und kohlschwarzer Kaffee aus der Kaffeemaschine. Die Mehrzahl der Gäste zog Bier vor. Das grelle Sonnenlicht drang durch die nikotingelben Fenster und verbreitete eine unangenehme Wärme in dem stickigen Lokal. Er hoffte, dass das gute Wetter nicht anhielt. Da waren ihm Sturm und Regen schon lieber. Sejr Brask hatte in seinen nunmehr 67 Lebensjahren den sommerlichen Optimismus immer verabscheut, die ekstatische Stimmung der Dänen, sobald die gelbe Kugel von einem blauen Himmel strahlte. Es war typisch für die Leute, dass sie sich ihrer Kleidung entledigten, als gelte es ihr Leben, und nicht genug von den warmen Strahlen bekommen konnten. Sejr Brask mochte dagegen den Herbst, die verblassende Schönheit der Natur, das Spiel der leuchtend orangefarbenen Töne, den Wind und die beißend scharfe Luft. Wenn er sich an seine eigene große Zeit als gründlicher, tollkühner Journalist der Kriminalredaktion erinnerte, sah er sich unter einer reifen Septembersonne auf dem Weg zur Arbeit den Rådhusplads überqueren.
In den letzten Jahren hatte er es nur bis in die Lanterne geschafft. Sejr war pensioniert worden, als wieder einmal Leute bei der Zeitung entlassen worden waren, und obwohl der Chefredakteur die Möglichkeit kurz erwähnt hatte, dass er als freier Mitarbeiter weiterarbeiten könnte, war bisher nichts daraus geworden. Sejr drehte den Kopf und trank sein Bier aus, während er den abgenutzten Holztisch vor sich betrachtete, in den einige Worte geritzt waren: Hure. Life sucks. Birger war hier. Die Antwort auf den Sinn des Ganzen war wohl kaum in den Tisch eingraviert, so viel wusste er. Der Traum, seine Karriere mit einer Superstory zu beenden, war nicht in Erfüllung gegangen, und bei dieser Erkenntnis zog
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