Blut und Harz
sagte nichts. Scheinbar hatte er es sich anders überlegt. Mit einem Ruck machte er auf dem Absatz kehrt und stapfte davon.
»Wichser!« hörte er ihn noch schimpfen.
Kopfschüttelnd blickte Reimund ihm nach. Wie sehr er doch die deutsche Verhaltensweise hasste.
Er war noch keine fünfzehn Minuten zurück auf deutschem Grund und schon sah er wieder nur entnervte Menschen, die keine Zeit hatten und ihr Leben im Dauerlauf durchpreschten. Arbeiten, arbeiten, arbeiten und dazwischen nörgeln und motzen.
Seufzend setzte sich Reimund wieder in Bewegung. In diesen Momenten sehnte er sich zurück in die Staaten. Die Leute waren einfach freundlicher, offener, beschwerten sich weniger und die Uhren rotierten auch noch gefühlt langsamer. Mit einem schabenden Gleiten fuhr die innere Ausgangstüre der Eingangshalle vor ihm auf. Daraufhin passierte er den Zwischenbereich, der hinaus in die Nacht führte.
Die feuchte Nässe des deutschen Nebels begrüßte ihn dahinter genauso wie die Menschen: mit einer eisigen Umarmung.
Ohne Zeit zu vergeuden, steuerte er auf einen Wagen zu, der am Taxistand auf Fahrgäste wartete.
Die Fahrertür stand offen, eine ausgefranste Jeanshose und schwarze Lederschuhe schauten heraus und darüber quoll kräuselnder Rauch hervor. Dazu vernahm Reimund das Gemurmel eines Autoradios. Scheinbar liefen gerade Nachrichten.
Er pochte mehrmals gegen die Scheibe der Beifahrertür, um sie umgehend darauf zu öffnen.
»Guten Abend …«
»Psssst!« zischte der Fahrer scharf. Er hob abblockend die Hand und saugte an seiner Zigarette, den Blick starr auf das rot glühende Display des Radios gerichtet.
Drehen hier eigentlich alle am Rad, fragte sich Reimund. Verärgert sagte er: »Wollen Sie Geld verdienen oder arm sterben?«
Unberührt schüttelte der Fahrer nur seinen lockigen Schädel. »Sind sie endlich mal leise? Hören Sie doch!« Seine Finger zeigten auffordernd auf das Radio.
»… die Versorgungslinien sind auf weiten Strecken vollständig zusammengebrochen«, sagte der Nachrichtensprecher. »Der spanische Präsident wird hier, hinter mir, eine Pressekonferenz geben, angekündigt in ungefähr zwei Stunden. Man erwartet neben aufmunternden Worten für die Bevölkerung eine Bekanntmachung, welche ersten Hilfsaktionen anlaufen sollen und ob schon in weiser Voraussicht das Ausland mit um Hilfe gebeten wird.« Die Stimme wechselte und eine Frau erklang.
»Vielen Dank nach Madrid. Und nun schalten wir wieder direkt zu unserem Tsunami-Experten nach Berlin.«
»Ja, schönen guten Abend. Unsere ersten Berechnungen sind nun abgeschlossen. Mehrere Milliarden Kubikmeter Wasser waren unterwegs und haben gegen die Küste Spaniens gedrückt. Die genaue Zahl ist noch reine Spekulation. Wir müssen aber davon ausgehen, dass die Katastrophe verheerender ausfällt als die im Dezember 2004 im indischen Ozean. Damals starben mehr als zweihunderttausend Menschen …«
»Irre, oder?« Der Taxifahrer blies eine Wolke blauen Dunst in Richtung Tür. »Und das passiert gerade in diesem Augenblick! Verstehen Sie das? Ich soll Sie hier in Seelenruhe durch die Gegend schippern und in Spanien verrecken Tausende von Menschen.«
Unbeeindruckt ließ sich Reimund schwer in den Beifahrersitz plumpsen, was automatisch das installierte Taxameter aktivierte, das zusammen mit einem kleinen Drucker für Quittungen über der Mittelkonsole angebracht war. Die Anzeige flammte auf.
»Sie essen auch Currywurst und Pommes, während in Afrika Kinder an Hunger sterben. So ist nun mal der Lauf der Dinge.« Reimund griff demonstrativ nach dem Sicherheitsgurt. »Fahren Sie nun oder wollen Sie Wurzeln schlagen?«
»Wie kann man nur so herzlos sein?« fragte der Fahrer kopfschüttelnd. Trotzdem warf er seine restliche Zigarette aus dem Wagen, knallte die Tür zu und griff nach dem Wagenschlüssel, der im Schloss steckte. Mit zartem Blubbern und Stottern startete der Motor.
»Wohin bitte?«
Reimund nannte eine kleine Tankstelle, die gute fünfzehn Minuten Fußweg vom Kloster entfernt lag. Von dort aus würde er den Rest laufen, was er sowieso vorgehabt hatte. Vom langen Sitzen im Flugzeug tat ihm wie immer der Rücken weh und Bewegung an der frischen Luft schadete sowieso nie.
Der Wagen setzte sich in Bewegung und glitt leise durch die Nacht.
Beide Männer schwiegen, während der Tsunamiexperte weiterhin aus dem Radio mit sorgenvoller Stimme erklang: »Konkrete Zahlen gibt es noch nicht. Das volle Ausmaß der Katastrophe ist völlig unklar.
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