Blut und Harz
im Menschen, zum Vorschein kam?
Reimund hasste es. Nie wieder wollte er eine solche Verblendung erleben! Weder an sich selbst, noch in seinem Umfeld. Er würde mit Johannes ein ernstes Wörtchen reden müssen, sobald die aktuellen Geschehnisse wieder unter Kontrolle waren. Eine solche Zügellosigkeit im Kloster durfte er nicht dulden. Weder als Abt, noch als Reimund Schell!
Vor ihm tauchte ein vorgelagerter Kreisverkehr aus dem Nebel auf, von dem er in die Stadt und auf kürzestem Weg zur Arztpraxis fahren konnte. Die gelben Wegweiser reflektierten die Lichter grell und tauchten den Nebel in goldenen Schimmer.
Reimunds Blick schweifte prüfend über die angrenzenden Straßen. Sie waren grau und leer.
Ohne den Blinker zu setzen, bog er entgegen der Fahrtrichtung ab und preschte links an der bepflanzten Insel vorbei.
Die alten Stoßdämpfer gingen quietschend in die Knie, doch der Wagen gehorchte seinem Meister, schlingerte um die Kurve und schoss nach der Abbiegung wieder gerade dahin.
Schweigend raste Reimund durch die Nacht. Fahle Lampen säumten mittlerweile die Fahrbahn und verströmten ihr weißes Kühltruhenlicht.
An einer weiteren Kreuzung bog er nach rechts ab und drosselte die Geschwindigkeit herunter. Mit grimmiger Zufriedenheit stellte er fest, dass kein weiteres Auto um diese späte Stunde unterwegs war. Zum Glück. Er war gefahren wie ein Henker und hätte nur Aufmerksamkeit auf sich gezogen.
Der Wagen rollte aufatmend aus und kam halb auf dem Gehsteig zum Stehen. Der Motor stotterte ein letztes Mal, dann blieb er stumm.
Reimund stieg eilig aus. Leise drückte er die Tür ins Schloss, dann hastete er über die Straße und blieb hinter einem hohen Busch stehen.
Vorsichtig spähte er um die Ecke.
Der Hof der Arztpraxis lag dunkel vor ihm. Gewissenhaft prüfte er mit seinen Blicken jedes Fenster. Im vorletzten blieb er hängen.
Das schwarze Fensterquadrat schimmerte eine Spur heller. Reimund konnte undeutliche Formen dahinter erkennen, wie wenn ein ganz schwaches Licht im Zimmer leuchten würde. Das Licht einer Bürolampe vielleicht oder die indirekte Beleuchtung eines anderen Zimmers.
Sie waren also noch hier!
Reimund schickte ein Stoßgebet zum Himmel. Er glaubte nicht an Gott, aber die konservative Erziehung von christlichen, streng gläubigen Eltern, die er als Kind genossen hatte, hatte ihre Spuren hinterlassen, trotz der vergangenen Jahrzehnte.
Mit einer geschmeidigen Geste schob er sich die Kapuze über den Kopf und überquerte den gepflasterten Innenhof.
Auf halben Weg erstarrte er.
Hektisch drehte er sich einmal um die Achse. Wo war der Wagen, fragte er sich. Reimund fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. In seiner Suche hatte er hier einen Wagen stehen sehen oder war es nur ein falscher Sinneseindruck gewesen? Gut möglich. Immer wieder gaukelte ihm die Wahrnehmung des Hains Bilder vor, die er falsch interpretierte. Er musste sich getäuscht haben. Dort drinnen brannte Licht, also waren Erik und Alexander noch hier.
Mit schnellen Schritten erreichte er die Glastür. Vorsichtig drückte er dagegen. Mit einem kaum hörbaren Klacken glitt die Türe nach innen auf.
Ein Schmunzeln huschte über Reimunds überraschte Gesichtszüge. So leicht hatte er es nicht erwartet. Geräuschlos schob er sich in den Flur und ließ die Türe ganz langsam ins Schloss gleiten.
Auf leisen Sohlen schlich er durch die verlassene Praxis.
Seine Sinne waren aufs Äußerste gespannt. Er hatte schon mit vielen Gegnern zu tun gehabt, aber dieser Rabe war ein größeres Kaliber. Reimund hatte den Killer unterschätzt. Er war so menschlich dumm gewesen, hatte sich zu leicht von der Überheblichkeit verleiten lassen. In seiner Position als Abt, ausgestattet mit Macht, hätte er weitsichtiger denken müssen und sich nicht so arrogant verhalten dürfen. Noch einmal würde ihm dieser Fehler nicht unterlaufen. Der Rabe war ein ernstzunehmender Feind!
Am Ende des Ganges sickerte Licht unterhalb einer geschlossenen Türe hervor. Der Spalt zwischen Boden und Türblatt war breit, wahrscheinlich vom Handwerker schlecht zugeschnitten. Nur deshalb hatte Reimund den Schimmer von außen erkennen können.
Der Mönch hielt den Atem an und lauschte, doch im Zimmer regte sich nichts. Alarmiert schob er sich vor die Türe und wartete. Auch nach zwei Minuten war kein einziges Geräusch zu ihm hindurchgedrungen.
Etwas stimmte nicht.
Entweder waren seine Zielpersonen nicht mehr hier oder sie hatten sich eine Runde aufs Ohr
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