Blut und rote Seide
hieß, man könne ihm nichts nachweisen, und Zeugen gab es auch keine. Außerdem hatte er sich während seiner Gefangenschaft ein hohes Fieber zugezogen, seine Bewacher wollten ihn nicht länger behalten. Er ging geradewegs nach Hause, doch kaum hatte er die Tür geöffnet, machte er auf dem Absatz kehrt und lief schreiend davon, als ob er einen Geist gesehen hätte. Seine Mutter rannte hinter ihm her – splitterfasernackt. An der Treppe stolperte sie und stürzte hinunter.
Ob er sie fallen gehört hat, weiß man nicht. Zumindest ist er nicht umgekehrt. Er rannte wie verrückt, aus dem Haus, die Straße entlang, den ganzen Weg zurück bis zum Nachbarschaftsbüro …«
»Eigenartig«, bemerkte Chen. »Haben Sie mit den Nachbarn über die Ereignisse jenes Nachmittags gesprochen?«
»Ja, mit mehreren«, entgegnete Fan. »Vor allem mit Tofu-Zhang, ihrem unmittelbaren Nachbarn, der zum fraglichen Zeitpunkt zu Hause war. Wegen seiner Nachtschicht schlief er noch, aber ein unheimliches Geräusch weckte ihn. Er sprang aus dem Bett und sah Mei nackt aus der Tür kommen und nach ihrem Sohn rufen. Den Jungen hat er nicht gesehen und vermutete daher, sie hätte vielleicht einen schlechten Traum gehabt. Dann stürzte sie und schlug mit dem Kopf hart am Boden auf. Er wollte ihr zu Hilfe eilen, zögerte aber. Er war jung verheiratet und seine Frau extrem eifersüchtig, sie wäre ausgerastet, wenn sie ihn mit einer nackten Frau angetroffen hätte. Daher hat er seine Tür lieber wieder zugemacht.
Erst nach Stunden kam Hilfe. Sie starb, ohne das Bewußtsein wiedererlangt zu haben.
Der Junge lag eine Woche im Fieberwahn. Mitleidige Nachbarn brachten ihn schließlich ins Krankenhaus. Nach seiner Genesung war er allein in der Dachkammer, nur ihr schwarzgerahmtes Foto hing noch an der Wand. Er verstand nicht, was passiert war, begriff aber rasch, daß seine Fragen nicht beantwortet wurden.«
»Hat die Nachbarschaftspolizei oder die örtliche Polizeistation jemals versucht, die genauen Umstände ihres Todes zu klären?« unterbrach ihn Chen.
»Nein, viele Menschen mit einem solchen Familienhintergrund sind damals gestorben; daran war nichts Außergewöhnliches. Das Nachbarschaftskomitee kam zu dem Schluß, daß es ein Unfall war. Ich versuchte, mit dem Jungen zu reden, aber er schwieg hartnäckig.«
Genosse Fan brach seufzend das letzte Stück mo auseinander und ließ die Brösel in seine Suppenschale fallen, dann wischte er sich die Hände ab.
Chen hatte zwar eine ausführlichere Schilderung von Meis Todesumständen erhalten, dabei aber nichts wirklich Neues erfahren.
Dennoch hatte er den Eindruck, daß Fan etwas zurückhielt. Als alter und erfahrener Beamter wußte er, was er sagen durfte und was nicht. Daran würde Chen kaum etwas ändern können.
Wäre es möglich, daß auch Fan ein heimlicher Verehrer Meis gewesen war? Chen hielt sich mit einem Kommentar zurück und zerkrümelte seinerseits das restliche mo . Der Kellner trug die Schalen wieder in die Küche. Eine alte Frau kam an ihren Tisch und wollte sie zum Kauf einer Gebetskette animieren.
»Soweit ich gehört habe, war sie eine außerordentlich schöne Frau«, sagte Chen schließlich. »Hatte sie vielleicht Bewunderer oder gar Liebhaber?«
»Interessante Frage«, sagte Fan. »Aber in jenen Zeiten war es für eine Frau mit schwarzem Familienhintergrund undenkbar, sich einen heimlichen Liebhaber zu halten. Sogar Ehepaare ließen sich aus politischen Gründen scheiden. Man weiß ja: Eheleute machen’s wie das Vogelpaar; sobald Unheil naht, fliegt der eine nach Osten, der andere nach Westen. «
»Ein Zitat aus dem Roman Traum der Roten Kammer «, bemerkte Chen. »Sie sind sehr belesen.«
»Was kann ein pensionierter Polizist sonst schon tun? Ich lese, während ich meinen Enkel hüte.«
»Können Sie mir sagen, was aus Meis Sohn geworden ist, Genosse Fan?«
»Er zog weg und lebte bei einer Verwandten. Nach der Kulturrevolution hat er studiert und eine gute Stelle bekommen. Mehr weiß ich auch nicht.«
Chen wollte seine Vermutungen, für die er keinerlei Beweise hatte, noch nicht preisgeben. Zuvor würde er noch ein paar Dokumente einsehen müssen.
»Eine tragische Geschichte«, sagte er statt dessen. »Kaum zu glauben, was alles passiert ist während der Kulturrevolution.«
»So viel ist geschehen, wahr oder falsch, vergangen oder gegenwärtig, und man spricht darüber bei einer Flasche Schnaps«, sinnierte Fan. »Der Tee hier ist übrigens gar nicht so
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