Blut und rote Seide
hatte er keine genaue Uhrzeit festgelegt. Der Junge war krank, hatte hohes Fieber, daher ließen sie ihn schon am Nachmittag gehen.«
»Das erklärt die Reaktion des Sohnes bei seiner Heimkehr. Sie können sich ja die Szene vorstellen, die er dort vorgefunden hat.«
»Allerdings. Das war zuviel für ihn. Und Mei ist ihm, so wie sie war, nachgerannt. Sie wußte, was für einen Schock das für ihn bedeutete. Dabei vergaß sie völlig, daß sie nackt war, stolperte und fiel.«
»Das erklärt auch, warum der Sohn, der seine Mutter so sehr liebte, ohne einen Blick zurück davonlief. Alles fügt sich zusammen.«
»Zu jener Zeit galt sogar die Polizei als bürgerliche Institution. Die Macht lag ganz in Händen der Rotgardisten und Arbeiterrebellen. Als ich meinen Vorgesetzten darauf ansprach, daß wir in der Sache ermitteln sollten, wiegelte er ab.«
»Eine Frage. Besitzen Sie die Fotos noch, Genosse Fan? Ich meine die vom Unfallort.«
»Ja, sie sind bei mir zu Hause, aber es wird eine Weile dauern, bis ich sie hervorgekramt habe.«
»Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mir die Bilder noch heute zeigen könnten.«
»Warten Sie am besten hier auf mich.« Fan erhob sich und verließ die Imbißbude.
Während er allein am Tisch wartete, brachte der Kellner die Rechnung. Wie Chen vermutet hatte, reichte das Taxigeld. Die Suppe kostete weniger als sieben Yuan pro Person. Mit der Summe, die er im Nachtclub ausgegeben hatte, hätte er drei Monate hier frühstücken können.
Im Traum der Koten Kammer räsoniert ein junges Mädchen darüber, daß ein einziges Krebsessen im Garten der Augenweide mehr kostet als die Nahrungsmittel, die ein Bauer im ganzen Jahr verbraucht. Heutzutage gab es wieder ähnliche Diskrepanzen innerhalb der Gesellschaft.
Chen zahlte an der Theke. Während er das Wechselgeld einsteckte, las er noch einmal die Schriftbänder an der Tür. Die Kalligraphie war kühn und stand in scharfem Kontrast zur Schäbigkeit der Imbißbude. Der waagrechte Schriftzug – »Die Wahrheit liegt in deinem Mund« – wirkte wie ein witziger und zugleich tiefgründiger Kommentar.
»Das bezieht sich nicht nur auf Essen«, bemerkte der Besitzer lächelnd. »Das Zeichen für Mund läßt sowohl an Essen als auch an Sprache denken. Alle Worte kommen aus dem Mund, egal, ob wahr oder falsch.«
»Ja. Das Verspaar erinnert mich ein anderes aus dem Traum der Roten Kammer , es hängt im Himmelspalast …«
»Ich weiß, was Sie meinen, das über dem Eingangsportal zum Land der Illusion, wo Jia Baoyu es liest und sich anschließend darin verliert. Aber an den genauen Wortlaut erinnere ich mich nicht mehr.«
»Er lautet: Wenn Wahrheit falsch ist, ist Falschheit wahr. / Wirkliches wird irreal, wo Irreales wirklich ist. «
»Das ist es. Sie müssen ein wohlhabender und gebildeter Mann sein. Ein erfolgreicher Anwalt oder dergleichen«, vermutete der Besitzer mit einem Seitenblick auf Chens Aktentasche.
Dieses italienische Modell aus feinem Leder war ein Geschenk von Gu, der wohl meinte, es passe zum Oberinspektor. Auch Grüner Jade war die Tasche aufgefallen, und sie hatte ihn daraufhin für einen »Anwalt oder so« gehalten.
»Der Verfasser des Traums der Roten Kammer war ein Meister des Wortspiels«, fuhr der Besitzer fort. »Auch mit den Namen seiner Figuren hat er gespielt. Jia, der Name des Helden, kann auch ›fiktiv‹ oder ›falsch‹ heißen; und dann gibt es beispielsweise den Namen Zheng, der ›real‹ oder ›wahr‹ bedeutet …«
In dem Moment setzte Chens Herz ein paar Schläge lang aus.
Abrupt beendete er das Gespräch, trat an den Tisch und öffnete seine Tasche. Vor seiner Abreise ins Ferienresort hatte er die Unterlagen über den Wohnungsbauskandal zusammen mit dem Material über die Mordfälle eingesteckt, obgleich er eigentlich nicht vorgehabt hatte, daran zu arbeiten. Auch seit seiner überstürzten Rückkehr nach Shanghai war er nicht dazu gekommen.
Er zog den Ordner zum Wohnungsbauskandal hervor und las, was dort über Jia stand.
Der Text enthielt wenig Informationen und bezog sich vor allem auf Jias mögliche Protesthaltung gegenüber der Regierung. Nur einige wenige Sätze betrafen seine unglückliche Kindheit während der Kulturrevolution, als er beide Eltern verloren hatte. Die Namen der Eltern wurden nicht genannt.
Doch Direktor Zhang schien der Ansicht zu sein, Jia habe die Verteidigung aus Rache für die Ereignisse während der Kulturrevolution übernommen.
Dann konzentrierte Chen sich
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