Blut und rote Seide
Stock katapultierte. Am Ende eines schmalen Korridors klopfte er an eine braune Tür mit der Nummer 307.
Der Mann, der sie mit einem knarrenden Geräusch öffnete, war Anfang Vierzig, hatte ungekämmtes Haar und rote, leicht verquollene Augen. Yu erkannte ihn als Weng, obgleich er auf dem Paßfoto jünger wirkte. Er hatte sich seit seiner Ankunft offenbar nicht umgezogen; die Kleider waren zerknittert und umspannten seinen stämmigen Körper wie eine vollgestopfte Reisetasche. Yu zeigte seinen Polizeiausweis und kam direkt zur Sache.
»Sie können sich denken, warum ich hier bin, Herr Weng. Erzählen Sie mir von Ihrer Beziehung zu Jasmine.«
»Sie arbeiten schnell, Genosse Hauptwachtmeister Yu. Heute morgen bin ich eingetroffen, und schon stehe ich auf der Liste der Verdächtigen.«
»Nein, das tun Sie nicht. Sie wissen vielleicht, daß es hier einen weiteren Mord gegeben hat, während Sie in den Staaten waren. Sie brauchen also keine Angst zu haben, aber was Sie uns erzählen, könnte bei den Ermittlungen weiterhelfen. Sie wollen ihren Tod doch gesühnt sehen, oder?«
»Natürlich, ich werde Ihnen erzählen, was ich weiß«, sagte Weng und ließ Yu eintreten. »Wo soll ich anfangen?«
»Als Sie sich kennenlernten – oder nein, besser sagen Sie mir erst einmal, warum Sie regelmäßig nach Shanghai kommen«, sagte Yu und holte ein kleines Aufnahmegerät hervor. »Reine Routine.«
»Ich habe Shanghai vor sieben oder acht Jahren verlassen, um mein Studium in den Vereinigten Staaten fortzusetzen. Dort habe ich meinen Doktor in Anthropologie gemacht, konnte aber keine Stelle finden. Schließlich begann ich für eine amerikanische Firma zu arbeiten, als deren Einkäufer in China. Sie haben keine eigene Fabrikation in den USA, sondern entwerfen Produkte und lassen sie hier herstellen, um sie dann mit gutem Gewinn weltweit zu vertreiben. Manchmal beziehen sie einen Artikel auch einfach in großer Stückzahl über das Yiwu-Großhandelscenter und kleben ihr eigenes Etikett drauf. Ich wurde eingestellt, weil ich mehrere chinesische Dialekte spreche und auch in ländlichen Gebieten verhandeln und feilschen kann. Daher bin ich ständig unterwegs, Shanghai ist mein Stützpunkt, ich bin hier geboren, und es liegt verkehrsgünstig …«
»Einen Moment, Weng. Sie haben doch noch Familie hier. Warum wohnen Sie nicht zu Hause?«
»Meine Eltern leben mit meinem älteren Bruder, dessen Frau und Kind auf nur sechzehn Quadratmetern. Da ist kein Platz mehr für mich. Mein Bruder würde sich nicht beklagen, meine Schwägerin dafür um so mehr. Warum sollte ich sparen, wo doch die Firma für die Reisekosten aufkommt?«
»Verstehe«, erwiderte Yu. »Dann haben Sie Jasmine also auf einer Ihrer Geschäftsreisen getroffen?«
»Wir sind uns vor etwa einem halben Jahr im Lift begegnet. Der alte Aufzug blieb zwischen dem fünften und sechsten Stockwerk stecken. Wir waren allein, sahen uns in die Augen und mußten damit rechnen, im nächsten Moment in die Tiefe zu stürzen. Plötzlich war sie mir sehr nahe, wie sie da stand in ihrer Hoteluniform, barfuß in Plastikschlappen und mit einem Eimer Seifenwasser in der Hand. Eine Frau ihres Aussehens in der Blüte ihrer Jahre – zu schade für eine so minderwertige Arbeit. Dann ging das Licht aus. In ihrer Angst packte sie meine Hand. Nach den längsten fünf Minuten meines Lebens setzte sich der Lift wieder in Bewegung. In dem Licht, das uns plötzlich wie weiches Wasser umfloß, sah sie so unschuldig und reizend aus. Ich fragte sie, ob sie in der Cafeteria Tee mit mir trinken wolle – ein bewährtes Mittel gegen Schock. Sie lehnte ab, da das gegen die Hotelrichtlinien verstieß. Am nächsten Morgen begegnete ich ihr zufällig in der Lobby. Sie hatte eben die Nachtschicht beendet und wirkte müde. Ich folgte ihr nach draußen und lud sie in ein Restaurant in der Nähe ein. Sie war einverstanden. So hat alles angefangen.«
»Was für ein Mädchen war sie?«
»Wirklich angenehm. Solche wie sie findet man heutzutage kaum noch. Sie war nicht aufs Geld aus. In einem Nachtclub hätte sie ein Vielfaches bekommen, aber sie wollte ihr Geld lieber auf ehrliche Weise hier im Hotel verdienen. Ich glaube nicht, daß sie mich für einen dieser Neureichen hielt. Und sie hat ihren kranken, gelähmten Vater hingebungsvoll gepflegt. Eine wirklich pflichtbewußte Tochter!«
»Davon habe ich gehört. Haben Sie sie zu Hause besucht?«
»Nein, das wollte sie nicht. Unsere Beziehung sollte ein Geheimnis
Weitere Kostenlose Bücher