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Blut und rote Seide

Blut und rote Seide

Titel: Blut und rote Seide Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Qiu Xiaolong
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geheimhalten, und das geht selten lange gut. Sobald er die Wahrheit herausfindet, ist alles aus – so etwas erträgt das männliche Ego nicht.«
    »Hat sie mit Ihnen über ihre Zukunftspläne gesprochen?«
    »Sie hat für einen Blumenladen gespart, schließlich wollte sie nicht ewig Tischfräulein bleiben. Aber sie sagte, sie wolle weitermachen, bis sie genug dafür beisammenhabe.«
    »Und was halten Sie von der Sache?«
    »Vielleicht hat der Mörder sie im Restaurant kennengelernt, hat sich ihre Telefonnummer geben lassen und ist später mit ihr ausgegangen. Aber ihr Schicksal kann sie auch unabhängig von ihrem Beruf ereilt haben.«
    »Das wäre möglich.«
    »Sie sind nicht zufällig Polizistin, Peiqin?«
    »Nein, das bin ich nicht«, antwortete Peiqin. »Seit meiner Rückkehr aus Yunnan arbeite ich im Vier Meere. Unser staatliches Lokal macht schon des längeren Verluste, und der Geschäftsführer hat vorgeschlagen, wir sollten es künftig wie eines dieser Nobelrestaurants führen und moderne Dienstleistungen anbieten. Ich dachte, Sie könnten mir ein paar Ratschläge geben.«
    Das entsprach der Wahrheit; Rongs Informationen konnten tatsächlich hilfreich sein. Vielleicht nicht unbedingt für das Vier Meere, denn die Einführung von Dreispartengirls war keine Neuerung, die Peiqin sich momentan vorstellen mochte.
    »Wo wir gerade davon sprechen, Peiqin«, sagte Rong. »Da war noch etwas, ich meine wegen Qiao. Drei, vier Tage vor der Mordnacht kam ein Gast ins Ming. Er war allein und sah nicht aus, als würde er einen solchen Service in Anspruch nehmen, also habe ich nicht weiter auf ihn geachtet. Da hat er sich an einen Kellner gewandt und um die Gesellschaft eines Mädchens gebeten. Qiao ist zu ihm an den Tisch gegangen. Im Verlauf des Abends ist nichts weiter passiert.«
    »Können Sie den Mann beschreiben?«
    »Wenn ich mich recht erinnere, sah er nicht aus wie einer dieser Neureichen. Eher ein Gentleman würde ich sagen. Mittelgroß. Ach ja, er trug eine Brille mit bernsteinfarbenen Gläsern. Keine richtige Sonnenbrille, aber es war auffällig, mitten im Winter.«
    »Hat Qiao anschließend etwas über ihn gesagt?«
    »Nein, sie hat an diesem Abend bis spät gearbeitet. Hatte noch einen weiteren Kunden.«
    »Besaß sie ein Mobiltelefon?«
    »Nicht, daß ich wüßte. Sie hatte auch zu Hause kein Telefon. Wenn ich sie erreichen wollte, mußte ich bei den Nachbarn im dritten Stock anrufen. Deren Nummer hatten bestimmt nicht viele Leute«, sagte Rong und erhob sich lächelnd. »Ich muß jetzt los, mich für den Abend herrichten. Vielleicht werde ich einen qipao tragen. Es ist ungewöhnlich warm heute.«

12
    FRÜH AM MORGEN hatte das Präsidium einen Stapel Tageszeitungen sowie die neuesten Fallberichte und Kassetten mit Yus Vernehmungen zu Chen nach Haus bringen lassen.
    Anstatt die Anthologien mit den Song- und Ming-Geschichten aufzuschlagen, wie er es sich vorgenommen hatte, sah Chen nun, im Morgenmantel auf dem Bett sitzend, die Ermittlungsunterlagen durch.
    Eine Tasse vom Vorabend stand noch auf dem Tisch, der Tee war kalt und fast schwarz. Eigentlich sollte man keinen Tee vom Vortag trinken, aber er tat es doch.
    Kurz darauf kam ein Kurier mit einem weiteren Päckchen. Diesmal waren es Bücher aus der Stadtbibliothek, vornehmlich Titel über Psychologie.
    Während seines Studiums hatte Chen dieses Gebiet nur gestreift, sofern es für die Literaturkritik von Bedeutung war. Die entsprechenden Fachbegriffe aus dem Werk von Freud und Jung waren ihm bekannt, und er fragte sich, ob so etwas wie das kollektive Unbewußte hinter den unvermittelten Wendungen in jenen Liebesgeschichten stehen konnte. Oder auch hinter der Botschaft des roten qipao .
    Auch lange nach 1949 waren psychologische Probleme im sozialistischen China kein Thema gewesen. Die Menschen im Sozialismus hatten keine Probleme, weder psychologische noch sonstige, solange sie den Lehren des Vorsitzenden Mao folgten. Gestanden sie ihre psychischen Störungen aber ein, dann mußten sie den Geist durch harte körperliche Arbeit umerziehen. Psychologie wurde zur Scharlatanerie erklärt, Psychoanalyse nicht praktiziert. Selbst wenn ein Analytiker verfügbar gewesen wäre, hätte das Reden über solche Dinge als Indiz für eine »ernste politische Verfehlung« gegolten. Erst in den letzten Jahren war die Psychologie nach und nach eingeführt und rehabilitiert worden, doch die meisten mißtrauten dieser Wissenschaft. Psychologische Probleme konnten sich

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