Blut und rote Seide
ist sie ein hauptberufliches Tischfräulein geworden.«
Beide schwiegen eine Weile, und Rong nippte an ihrem Wein, der in dem mit Gravuren verzierten Glas schimmerte wie ein verlorener Traum. Dann zitierte sie ein paar Gedichtzeilen.
Die Erinnerung an ihre von Rouge gefärbten Tränen, / an die Nacht zwischen den Trinkschalen … Wann wird mir all das wieder zuteil? Ein trauriges Leben ist so lang, / wie die Flüsse, die gen Osten fließen.
Die Zeilen klangen vertraut. Rong war offenbar am Ende ihrer Geschichte angekommen. Peiqin war enttäuscht von diesem exemplarischen Werdegang eines Tischfräuleins. Sie fragte sich, ob der Bericht autobiographische Züge trug, und suchte im Gesicht der Erzählerin nach Hinweisen.
Ein Kellner brachte im Laufschritt die Platte mit dem Fisch. Das würde ihr letzter Gang sein.
»Sehen Sie sich den Fisch an«, sagte Rong und zückte die Stäbchen. »Er rollt noch mit den Augen.«
Der Barsch, bedeckt von brauner Soße, war gut durchgebraten, die Schwanzflosse schimmerte golden. Der Keller filetierte ihn mit einem langstieligen Löffel, während die Augen des Fischs unablässig zuckten.
»Dieser Fisch wird auf besondere Weise zubereitet. Man füllt das Maul des lebenden Tiers mit Eiswürfeln und achtet darauf, daß die Augen außerhalb des siedenden Öls bleiben. Nach weniger als einer Minute nimmt man ihn aus dem Wok und übergießt ihn mit einer speziellen Soße. Jeder Schritt muß präzise und zügig ausgeführt und der Fisch heiß serviert werden. Deshalb hat der Kellner sich so beeilt.«
Rong bewies ihre kulinarischen Kenntnisse, und ihre Zuhörerin bekam gleich ein Rezept, das sie in ihre Erzählung einbauen konnte. Doch Peiqin war auf etwas anderes ausgewesen.
»Vielen Dank, Rong, für diese interessante Geschichte.« Sie versuchte das Gespräch in die gewünschte Richtung zu lenken. »Ich bin immer noch ganz erschüttert über Qiaos Ende. Wie konnte einem Mädchen wie ihr so etwas zustoßen?«
»Bei dieser Klientel weiß man nie, mit wem man es zu tun hat«, sagte Rong und sah Peiqin unverwandt an. »Ich dachte, wir sprechen hier nicht über Qiao.«
»Natürlich nicht, sie ist nur ein Beispiel.«
»Ich begreife auch nicht, wie das passieren konnte. So etwas gab es noch nie.«
»Hat sie sich vielleicht durch ihre Dienstleistungen Feinde gemacht?«
»Nicht, daß ich wüßte. Unter den Dreispartengirls gelten die Tischfräulein als am wenigsten gefährdet«, sagte Rong. »Bei uns läuft das nicht wie in einem Karaoke-Club, wo der Kunde oft hemmungslos ausgenommen wird, weil die Preise völlig unkalkulierbar sind und man erst Klarheit erhält, wenn einem die Rechnung überreicht wird. Bei uns stehen alle Preise auf der Karte. Niemand verliert das Gesicht, wenn er ein bestimmtes Gericht nicht mag. Ich schlage zum Beispiel oft die Hausspezialität Lebendes Affenhirn vor, doch kein Kunde hat es je bestellt. Ich nehme das keinem übel. Im Gegenteil, es ist echt gruselig, wenn der Koch dem Affen vor den Augen des Kunden die Hirnschale aufsägt, die Hirnmasse herauslöffelt, und das arme Vieh dabei vor Schmerzen schreit und sich windet …«
»Zurück zu Qiao«, unterbrach Peiqin. »Haben Sie sie in der fraglichen Nacht noch gesehen?«
»Nein. Sie war für diesen Abend gebucht, ist aber nicht erschienen.«
»Hat sie vielleicht ein anderes Restaurant besucht?«
»Das halte ich für unwahrscheinlich. Der Konkurrenzkampf ist hart, auch unter den Mädchen. Die meisten arbeiten immer im selben Lokal und sind mehr oder weniger organisiert. Manchmal konnte ich der einen oder anderen ein wenig helfen; die Dinge können ganz schön kompliziert werden für ein Mädchen. Sie muß mit dem Lokalbesitzer und den Kellnern ihren Anteil aushandeln, außerdem braucht sie eine Lizenz und den Schutz der Triaden, aber auch die Polizei kann Schwierigkeiten machen. Wenn eine plötzlich allein in einem neuen Revier auftaucht, wird sie sofort von den Kellnern oder von organisierten Banden vertrieben oder sogar von den Mädchen selbst verjagt, die ihr Territorium verteidigen müssen. Ein Eindringling würde sofort Ärger bekommen.«
»Dann glauben Sie also nicht, daß sie bei der Ausübung ihres Gewerbes zu Schaden gekommen ist?«
»Zumindest nicht in unserem Lokal.«
»Eine andere Frage, Rong. Hatte sie einen festen Freund?«
»Nein. Es ist nicht leicht für ein solches Mädchen, feste Beziehungen einzugehen. Wie würde der Mann sich dabei fühlen? Sie müßte ihren Beruf vor ihm
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