Blut und rote Seide
schnell in politische Probleme verwandeln.
Auch in der Polizeiarbeit galt der psychologische Ansatz als höchst unorthodox. Selbst Hauptwachtmeister Yu hatte seine Vorbehalte. Solche Theorien konnten allenfalls im nachhinein Erklärungen für das Handeln eines Täters geben.
Chen begann sich in Yus Berichte zu vertiefen.
Der Arme hatte es nicht leicht mit Liao. Abgesehen von der traditionellen Rivalität zwischen den beiden Abteilungen, hielt Liao nichts von Yus Augenmerk auf Jasmines Leben. Er war überzeugt, daß die Mordkommission in dieser Hinsicht alles Notwendige unternommen hatte. Seiner Ansicht nach hatten sie es mit einem Irren zu tun, der beliebig zuschlug. Hier nach rationalen Erklärungen suchen zu wollen war reine Zeitverschwendung.
Doch wie beim Go-Spiel erfaßte ein erfahrener Spieler instinktiv seine Chancen auf dem Spielbrett. Ein kleiner weißer oder schwarzer Spielstein in marginaler Position, für sich genommen unbedeutend, konnte der gesamten Partie eine neue Wendung geben. Als guter Go-Spieler würde Yu auch bei den Ermittlungen das richtige Gespür beweisen.
Nach seinem ersten Gespräch mit Weng im Hotel hatte Yu die Fährte weiterverfolgt. Er hatte Wengs Angaben, unter anderem am Flughafen, überprüft. Das Einreisedatum stimmte, doch in Wengs Zollerklärung hatte er eine unerwartete Entdeckung gemacht. Dort hatte er bei der Frage nach dem Ehestand das Kästchen »verheiratet« angekreuzt. Das hatte ein weiteres Gespräch nötig gemacht.
Chen legte die entsprechende Kassette in seinen Kassettenrekorder, übersprang die Einleitung und spulte zu der Stelle, wo Yu Weng zu seiner Beziehung mit Jasmine und seinen Angaben zum Familienstand befragte.
WENG: Als ich sie das erstemal traf, war ich noch verheiratet, ich habe mich aber bald darauf von meiner Frau getrennt. Ich warte auf die Scheidung. Jasmine wußte das, wenn auch nicht von Anfang an.
YU: War sie unglücklich, als sie es erfuhr?
WENG: Ich denke schon, aber zugleich war sie erleichtert.
YU: Wieso das?
WENG: Ich habe vor, ins Antiquitätengeschäft einzusteigen. Dank meines anthropologischen Wissens habe ich einen Vorsprung vor anderen unbedarften Händlern, und in China steigt die Nachfrage nach Antiquitäten. Ich wollte, daß sie mich in die Staaten begleitet und mir hilft, einen Laden zu eröffnen. Ich hatte mich bereits nach Möglichkeiten erkundigt, ihren Vater hier in einem Pflegeheim unterzubringen. Doch sie hatte es nicht eilig, sie machte sich Sorgen um ihn. In ein paar Wochen wäre alles geregelt gewesen. Aber sie schien vom Pech verfolgt. Es war wie ein Fluch, der auf ihr lastete.
YU: Was meinen Sie mit Pech. Nennen Sie mir Beispiele.
WENG: Immer wieder stießen ihr unerklärliche Dinge zu. Ganz zu schweigen von dem Unglück, das ihren Vater ereilte …
YU: Gut. Fangen wir mit dem Vater an.
WENG: Tian war während der Kulturrevolution ein Arbeiterrebell. Kein angenehmer Zeitgenosse, davon kann man ausgehen. Er wurde bestraft – drei Jahre Gefängnis, die er durchaus verdient hatte. Doch auch nach seiner Freilassung verfolgte ihn das Unglück.
YU: Karma, wie seine Nachbarn meinen.
WENG: Mag sein, aber es gab so viele Rotgardisten und Arbeiterrebellen in jenen Jahren. Und wie viele davon wurden bestraft? Ich kenne keinen außer Tian. Seine Frau ließ sich scheiden, er verlor seinen Arbeitsplatz, die Jahre im Gefängnis, sein Scheitern in der Gastronomie und dann noch diese Lähmung …
YU: Langsam, Weng. Das müssen Sie mir genauer erzählen.
WENG: Nach der Kulturrevolution bekam seine Frau anonyme Anrufe, daß er Affären mit anderen Frauen habe. Das gab seiner Ehe den Rest, sie reichte die Scheidung ein. Er war bestimmt kein vorbildlicher Ehemann, aber seine Untreue wurde nie bewiesen, und keiner weiß, wer der Anrufer war. Dann geriet seine Fabrik in die Krise, er wurde entlassen und später verurteilt. Was mit seiner geschiedenen Frau passierte, war noch haarsträubender. Sie war erst Anfang Dreißig und tat sich mit einem anderen Mann zusammen. Bald darauf tauchten Fotos von den beiden im Bett auf. In den frühen Achtzigern war das noch ein riesiger Skandal, und sie brachte sich um. Daraufhin ist Jasmine wieder zu ihrem Vater gezogen. Er lieh sich Geld, um ein kleines Lokal zu eröffnen, doch nach weniger als einem Monat traten dort mehrere Fälle von Lebensmittelvergiftung auf. Die betroffenen Gäste verklagten ihn mit Hilfe eines Rechtsanwalts, und Tian mußte Konkurs anmelden.
YU: Eigenartig, damals
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