Blut und rote Seide
Retro-Look.«
Das gab den Ausschlag.
»Gut. Wir sehen uns im Nanxiang.«
Es wäre den Ermittlungen dienlich. Sie konnte ihm als Modeberaterin bei dieser Feldstudie behilflich sein, sagte er sich, doch ein leises Unbehagen blieb.
Hatte das mit dem Thema seiner Literaturanalyse zu tun, mit der femme fatale ? Es kam ihm vor wie ein Nachklang der Erzählung, die er kürzlich gelesen hatte. Einer der Kritiker hatte behauptet, die Yingying aus der »Geschichte der Yingying« sei tatsächlich eine Frau von fragwürdigem Ruf gewesen, ähnlich wie die K-Mädels in der heutigen Gesellschaft.
Chen zog sich für seine Verabredung um.
Zwanzig Minuten später durchschritt er den vertrauten Torbogen zum Markt beim Stadtgott-Tempel.
Für die meisten Shanghaier war weniger der Tempel die Attraktion, sondern vielmehr der ihn umgebende Markt, wo lokale Produkte und Leckereien angeboten wurden. Was als temporärer Markt anläßlich von Tempelfesten begonnen hatte, war inzwischen zur Dauereinrichtung geworden. Für Chen lag der Reiz vor allem in den Imbißbuden und kleinen Lokalen mit ihren preiswerten und doch einzigartigen Gerichten, wie Hühner- und Entenblutsuppe, Suppenklößchen im Bambusdämpfer, Rettichkuchen, Teigtäschchen mit Krabben- oder Fleischfüllung, Nudelsuppe mit Rindfleisch, gebratener Tofu mit Reisnudeln und vieles mehr … Diese Gerichte erinnerten ihn an eine Zeit, als in der Gesellschaft noch Gleichheit herrschte: Alle hatten gleich wenig Geld und erfreuten sich an solch simplen Köstlichkeiten.
Auch hier hatte sich manches verändert. Hinter dem Yu-Garten, der während der Qing-Zeit in der südlichen Gartenbautradition angelegt worden war und zur Residenz des Shanghaier Bürgermeisters gehört hatte, waren neue, hohe Häuser emporgewachsen. Als Chen klein war, hatten seine Eltern es sich nicht leisten können, mit ihm in die berühmten Gärten von Suzhou und Hangzhou zu fahren, und so waren sie statt dessen in den Pavillons und Grotten dieser verkleinerten Version spazierengegangen.
Er ließ den Garten links liegen und betrat die Zickzackbrücke, deren neun Biegungen die Geister, die ja bekanntlich nicht um Ecken gehen können, abhalten sollten. Ein altes Paar stand auf der Brücke und fütterte die unsichtbaren Karpfen im Teich mit Brotkrumen. Die beiden Alten nickten ihm zu. Die Fische würden bei dieser Kälte nicht an die Oberfläche kommen, aber die beiden warteten geduldig. Die letzte Biegung der Brücke brachte ihn zum Nanxiang Restaurant.
Im Erdgeschoß herrschte das übliche Treiben: Eine lange Schlange wartete darauf, bedient zu werden, und beobachtete dabei durch die großen Küchenfenster, wie drinnen Küchenhelfer an langen Tischen Krabben pulten und deren Fleisch mit Schweinehack vermischten. Er stieg die gewundene Treppe in den ersten Stock hinauf, wo es trotz der doppelt so hohen Preise ebenfalls voll war. Also nahm er die nächste Treppe in einen weiteren Gastraum, wo dieselben Teigtäschchen dreimal so viel kosteten und das Mobiliar aus falschem Mahagoni war. Hier fand er immerhin einen Tisch am Fenster mit Blick auf den Teich.
Als der Kellner ihm Tee einschenkte, traf auch Weiße Wolke ein; groß und schlank, in einem Mantel aus Pelzimitat, stakste sie auf hohen Absätzen die Treppe herauf. Als er ihr aus dem Mantel half, sah er, daß sie einen im Schnitt leicht modifizierten, rückenfreien rosa qipao trug. Das Kleid saß wie angegossen und brachte ihre Kurven vorteilhaft zur Geltung. Wieder einmal fiel ihm der bekannte Konfuzius-Spruch ein: Eine Frau schmückt sich für den, der sie liebt.
»Sie kommen dahergeschwebt wie eine Morgenwolke«, kommentierte er ihren Auftritt, bevor er vier Dämpfer Suppenklößchen mit Krabben- und Schweinefleischfüllung bestellte. Unterdessen musterte der Kellner Weiße Wolke mit unverhohlener Bewunderung.
»Sie haben ja ordentlich Appetit heute«, bemerkte sie und legte ihr zum Kleid passendes rosa Seidentäschchen auf den Tisch.
»Eine Schöne so köstlich, daß man sie am liebsten verzehren würde«, zitierte er einen weiteren, Konfuzius zugeschriebenen Ausspruch.
»Und in romantischer Stimmung scheinen Sie auch zu sein.« Sie nahm ein Beutelchen aus ihrer Handtasche und riß es auf. Es enthielt einen mit Alkohol getränkten Wattebausch, mit dem sie die Stäbchen abrieb, zuerst seine, dann ihre. Das Nanxiang war eines der wenigen Alt-Shanghaier Lokale, das noch keine Einwegstäbchen benutzte.
»Sagen wir eher nostalgisch«, erwiderte er
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