Blut und rote Seide
war es nicht üblich, wegen so etwas zu klagen.
WENG: Wissen Sie, wie er sich die Lähmung zuzog?
YU: Ich dachte, es war ein Schlaganfall.
WENG: Ja, in seiner Verzweiflung versuchte er sein Glück beim Mah-Jongg, wurde aber bereits beim zweitenmal von einem Nachbarschaftspolizisten erwischt, der ihm eine Geldstrafe und eine Strafpredigt verpaßt hat. Während er die über sich ergehen lassen mußte, hat er einen Schlaganfall erlitten.
YU: Und was ist Jasmine zugestoßen?
WENG: Das kleine Mädchen hatte es nicht leicht, war aber trotzdem eine gute Schülerin. Am Tag der Hochschulzugangsprüfung wurde sie auf dem Schulweg von einem Radfahrer angefahren. Sie war nicht weiter verletzt und sagte dem Fahrer, er solle sich keine Gedanken machen, doch der bestand auf einer Untersuchung im Krankenhaus. Als alles vorbei war, hatte sie die Prüfung verpaßt.
YU: Das war ein Unfall. Ein verantwortungsvoller Radfahrer mußte so handeln.
WENG: Schon möglich, aber dann kam die Sache mit ihrer ersten Arbeitsstelle.
YU: Was ist da passiert?
WENG: Sie konnte es sich nicht leisten, ein ganzes Jahr bis zur nächsten Prüfung zu warten. Also trat sie eine Stelle als Versicherungsagentin an. Ein guter Job, der hohe Prämien versprach. Versicherungen kamen damals gerade in Mode. Doch schon nach drei oder vier Monaten schickte jemand ihrem Chef einen Brief, in dem er ihren promiskuitiven Lebensstil und ihre schamlosen Verkaufsstrategien anprangerte. Ihr Chef, der um das Image der Firma fürchtete, hat sie gefeuert.
YU: Das war ihre Sicht der Dinge.
WENG: Aber die Anschuldigungen waren grundlos. Ich hatte nie Zweifel, was ihre Vergangenheit betraf.
YU: Hat sie selbst sich zu der Pechsträhne geäußert?
WENG: Von Anfang an schien ein Schatten auf ihr gelegen zu haben. Deshalb glaubte sie, unter einem ungünstigen Stern geboren zu sein. Sie bewarb sich anderswo, wurde aber nirgends genommen, bis sie den Job in diesem schäbigen Hotel bekam.
YU: Wieso hat sie Ihnen das alles erzählt?
WENG: Sie litt unter starken Minderwertigkeitskomplexen. Als wir anfangs miteinander ausgingen und ich von unserer gemeinsamen Zukunft sprach, konnte sie kaum glauben, daß ihr Schicksal sich wenden sollte. Wären wir nicht in diesem Aufzug steckengeblieben, hätte sie meine Einladung nie angenommen. Sie war ein bißchen abergläubisch und sah den Zwischenfall als ein Zeichen. Das ist nur verständlich, wenn man so viel Pech hat im Leben.
YU: Noch eine Frage: Für wann war die Heirat geplant?
WENG: Das genaue Datum stand noch nicht fest, doch wir waren uns einig, daß wir baldmöglichst heiraten würden. Sobald die Scheidung durch wäre …
Chen spulte das Band bis ans Ende, doch Yu hatte diesmal keine Kommentare angefügt, wie er es sonst manchmal tat. Es lag auch kein schriftlicher Bericht bei.
Chen stand auf, um sich Kaffee zu machen. Es war ein kalter Morgen. Vor dem Fenster löste sich ein letztes gelbes Blatt von einem Zweig.
Er ging zum Bett zurück, stellte den Becher mit Kaffee auf den Nachttisch und trommelte mit den Fingern auf den Kassettenrekorder.
Dabei hatte er Yu vor Augen, wie er, auf ein Go-Brett trommelnd, nach einer möglichen Eröffnung suchte, die ihm noch nicht ganz klar war – noch nicht.
Es mußte mit diesem Fluch zu tun haben, der auf Jasmine lastete.
Tian hatte seine Strafe verdient, doch die meisten anderen waren nach der Kulturrevolution ungeschoren davongekommen. Auch das Porträt des Großen Vorsitzenden hing weiterhin über dem Tor des Himmlischen Friedens. Einen Affen töten, um die Hühner zu erschrecken, empfahl ein Sprichwort. Tian war der Affe gewesen, das war sein Pech.
Doch was hatte Jasmine damit zu tun? Der Fahrradunfall mochte Zufall gewesen sein. Die Sache mit dem anonymen Brief jedoch ging zu weit. Sie war damals allenfalls siebzehn oder achtzehn gewesen. Wer konnte dieses junge Mädchen so gehaßt haben?
Das Klingeln des Mobiltelefons brach in Chens trüben, gedankenverlorenen Morgen ein.
»Wollen wir uns nicht beim Stadtgott-Tempel zum Brunch treffen?« Die Stimme von Weißer Wolke klang ganz nah. »Ich weiß, wie sehr Sie die Suppenklößchen dort schätzen.«
Eine Pause wäre keine schlechte Idee, überlegte Chen. Das Gespräch mit ihr würde ihm weiterhelfen, bei seiner Seminararbeit und bei den Ermittlungen.
»Es gibt dort verschiedene Boutiquen, die qipaos verkaufen«, sagte sie, bevor er antworten konnte. »Ziemlich viele sogar, keine gute Qualität, aber modisch, manche auch im
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