Blut und rote Seide
vertraten den Grundsatz, daß Schönheit nicht satt mache. An der Wand über ihrem Kinderbett hing ein Plakat von Maos ›Eisernem Mädel‹: groß, kräftig und mit stahlharten Muskeln. Menschen, die nicht genug zu essen haben, erscheint Schönheit genauso nutzlos wie das Abbild eines Kuchens. In der Volksschule hat sie einmal ihr Traumhaus gezeichnet: ein riesiges Restaurant. Sie hat es zum ersten Mal betreten, als sie fünfzehn war.
Mitte der Achtziger erblühte sie zu einer echten Schönheit. Auch wenn die Maxime ihrer Eltern da schon kaum mehr Gültigkeit besaß, bestimmte sie weiterhin ihr Leben. In Zeiten, wo vor allem gute Beziehungen zählten, war mehr als ein hübsches Äußeres nötig, um ein Model oder gar ein Star zu werden. Und Beziehungen hatte sie nicht. Für ein Mädchen aus einfachen Verhältnissen war eine Stelle in einer staatlichen Fabrik die ideale ›eiserne Reisschüssel‹. Deshalb fing sie nach dem Schulabschluß in einer Textilfabrik an, eine Stelle, die sie von ihrer früh verrenteten Mutter übernahm.
Gutes Aussehen war dort nicht gefragt. Sie arbeitete drei Schichten und lief sich zwischen den Webstühlen die Füße wund, immer im selben Viereck wie eine Fliege an der Decke. Zu Hause schleuderte sie ihre Schuhe von sich und rieb sich die schmerzenden Füße. Die vom Herbstwind zerzausten Weidenschößlinge vor dem Fenster machten ihr eines deutlich: Textilarbeiterinnen altern schnell. Allzubald wird die Frühlingspracht der Blüten verblassen. Eisiger Regen und schneidender Sturm lassen sich nicht aufhalten.
Doch dann kamen Deng Xiaopings Reformen, und alles änderte sich. Sie träumte von Dingen, die für ihre Eltern unvorstellbar gewesen wären. Wenn sie in Modeheften blätterte, hatte sie das Gefühl, etwas verpaßt zu haben. Denn wie die Heiratsvermittlerinnen aus der Nachbarschaft zu sagen pflegten: Sie war es, die die Kleider zur Geltung brachte, nicht umgekehrt.
Schließlich faßte sie einen Entschluß: Sie würde ihre Jugend nicht ungenutzt verstreichen lassen. Ihr Plan basierte auf den Shanghaier Ausgehgewohnheiten. Junge Paare gingen beim ersten und zweiten Treffen in der Regel auswärts essen, wobei der finanzielle Aufwand von seinem Geldbeutel und ihrem Aussehen abhing. Schon das Sprichwort weiß: Das Lächeln einer Schönheit ist tausend Goldstücke wert ; und das gilt besonders im Anfangsstadium einer Beziehung. Da geht ein Mann so freigebig mit dem Geld um, wie ein Sichuan-Koch mit dem Pfeffer. Sobald die Beziehung stabiler ist, wird eine junge Shanghaierin ihren Liebsten dazu anhalten, für die gemeinsame Zukunft zu sparen. Sie gehen zwar immer noch gelegentlich aus, dann jedoch eher in gute, aber preiswerte Lokale wie das Nanxiang beim Stadtgott-Tempel, wo man zwei Stunden für die berühmten Teigtäschchen anstehen muß. Sie hatte begriffen, daß die Jugend eines Arbeiterkinds rasch vergeht.
Zum Kummer ihrer Mutter machte sie keine Anstalten, zu heiraten und eine Familie zu gründen. ›Ich bin noch nicht bereit, mich in ein Neun-Quadratmeter-Zimmer sperren zu lassen mit plärrendem Baby, rauchendem Wok und nassen Windeln‹, erklärte sie ihrer Mutter. ›Mir schwebt etwas anderes vor. Ich werde heiraten wie jede andere auch, aber später, zuerst will ich das Leben genießen.‹
Das tat sie, indem sie sich in teure Restaurants zum Essen einladen ließ. Für die Rechnung mußten ihre Begleiter tief in die Tasche greifen, aber wenn sie aufjaulten, waren sie selbst schuld. Sie sorgte dafür, daß ihre Affären kurz und angenehm blieben, je nachdem, wie lange er sich ihre Gesellschaft leisten konnte. Sie aß Rindfleisch mit Austernsoße im Xinya, Pekingente in Yanyun-Pavillon, Krebsfleisch mit Käse im Roten Haus, kandierte Äpfel im Hotel Kaifu und Seegurke mit Krabbenovarien im Shanghai Old House.
Ihr fünfter Partner, angeblich ein reicher Onkel aus Hongkong, war finanzkräftig genug, sie hintereinander in all diese Lokale einzuladen. Doch auch er ließ sie nach zwei Monaten eines Abends vergeblich vor dem Peace Hotel warten. Zunächst war sie enttäuscht, doch eine Woche später ließ sie sich von Partner Nummer sechs zum Feuertopf ausführen, wo sie Lamm- und Rindfleischstreifen, Aal, Krabben und andere Köstlichkeiten aus brodelnder Hühnerbrühe fischten. ›Der Frühlingsbambus hat eine so elegante Form‹, bemerkte sie und griff mit ihren Stäbchen zu. ›Genau wie deine Finger‹, erwiderte er einfältig grinsend und nahm ihre freie Hand. Sie zog sie nicht
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