Blut und rote Seide
sich seinem Verständnis entziehen. Aufgabe des Analytikers ist es, die im Unterbewußtsein des Patienten liegenden Gründe dafür zu finden. Auch ich habe mich auf die Widersprüche in diesem Fall konzentriert, vor allem auf den roten qipao . Ich habe mir eine Liste zusammengestellt.«
»Noch eine Liste.«
Chen ignorierte ihn. »Da ist zum einen der Widerspruch zwischen dem eleganten Kleid und der obszönen Pose.«
»Ich dachte, das hätten wir letztes mal schon geklärt. Jemand, der ein solches Kleid trug, könnte ihn verletzt haben«, sagte Yu. »Liao meint, es muß jemand aus dem Unterhaltungsgewerbe gewesen sein.«
»Das führt uns zu einem weiteren Widerspruch, der nicht in Liaos Theorie paßt«, sagte Chen und nahm seine Brille ab. »Diese Art Kleid ist viel zu konservativ für ein Dreispartengirl. Zu altmodisch. Professor Shen sagte, es sei vor etwa zehn Jahren angefertigt worden, und obendrein in einem Stil, der noch weiter in die Vergangenheit zurückweist. Damals gab es noch kein Unterhaltungsgewerbe und erst recht keine Dreispartengirls.«
»Wohl kaum.«
»Und dann diese Detailtreue. So ein Kleid kann sich ein Dreispartengirl gar nicht leisten. Es ist von hoher Qualität, das Werk eines hervorragenden Schneiders.«
»Ja, das erwähnte Professor Shen.«
»Des weiteren die eingerissenen Seitenschlitze. Weiße Wolke hat ein Experiment für mich durchgeführt.«
»Haben Sie sie wieder als Assistentin engagiert?« Yu dachte an Peiqins Vermutungen über eine mögliche Beziehung zwischen den beiden. »Was für ein Experiment?«
»Nun, sie kennt sich in Modefragen besser aus als ich. Sie hat mir demonstriert, daß die Schlitze kaum zufällig beschädigt worden sein können, selbst dann nicht, wenn man sehr grob mit dem Kleid umgeht. Das heißt, der Täter muß sie vorsätzlich eingerissen haben. Keine sexuellen Übergriffe, keine Penetration, kein Ejakulat – warum will er unbedingt diesen Anblick präsentieren? Dafür muß es doch Gründe geben.«
»Sie meinen, er will uns nicht in die Irre führen, sondern hat Gründe, die nur er selbst versteht?«
»Vermutlich sind sie nicht einmal ihm verständlich. Ich stelle mir eine Art Ritual vor. Nur wenn das Opfer diesen qipao trägt und alle Details stimmen – die eingerissenen Schlitze, die nackten Füße, die losen Knöpfe, die obszöne Pose –, nur dann ist das Ritual gültig. Der Kick ist nur zum Teil psychologischer Natur. Er beruht mindestens ebenso auf ritualisiertem Verhalten, wie es bei sexuellen Perversionen häufig auftritt. Und es ist genau wie in meinen Liebesgeschichten, wo diese Widersprüche dem Autor auch nicht bewußt waren. Wozu dann das Ganze?«
»Ja, wozu?« echote Yu und beobachtete, wie eine weitere Gruppe Neugieriger das Gebüsch durchstreifte. Der Wagen eines Fernsehteams hatte sich unweit davon in Stellung gebracht und verursachte einen Verkehrsstau. »Ich hab ja nicht Psychologie studiert«, bemerkte Yu leicht genervt. »Aber immerhin weiß ich, daß sich dabei ein Patient vor einen Arzt hinsetzt und ihm etwas erzählt. Wenn aber, wie in unserem Fall, nicht mal die Identität des Täters bekannt ist, wen und was sollen wir da analysieren?«
Diesen Einwand hatte Yu schon bei ihrem ersten Gespräch vorgebracht, und Chen hatte keine befriedigende Antwort darauf geben können.
»Aber indem wir diese Widersprüche analysieren, können wir doch etwas über ihn herausfinden.«
»Also wirklich, Chef!«
»Erstens einmal deuten Schnitt und Stoff des Kleides darauf hin, daß es in den Sechzigern angefertigt wurde, keinesfalls aber nach Ausbruch der Kulturrevolution. Das heißt also vor 1966. Laut Professor Shen läßt der Stil auf eine verheiratete Frau um die Dreißig schließen. Wenn die Trägerin des originalen qipao heute noch am Leben wäre, müßte sie also Mitte Sechzig oder um die Siebzig sein.«
»Moment, Sie sprechen jetzt von der Trägerin des originalen qipao , die damals dreißig war?« fragte Yu nach.
»Ist Liao denn nicht auch der Ansicht, daß die Morde etwas mit der Trägerin des originalen qipao zu tun haben? Nur daß meines Erachtens die Trägerin einer anderen sozialen Schicht und Altersgruppe angehört als in Liaos Theorie. Und das wiederum führt mich zu dem Mann an ihrer Seite. Nehmen wir einmal an, er war im selben Alter, dann müßte auch er heute Mitte Sechzig bis siebzig sein.«
»Ach ja?« stieß Yu einigermaßen verblüfft hervor. »Was hat der denn damit zu tun?«
»Wenden wir uns unserem
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