Blut und rote Seide
Drucks gewählt, und der Kleine Zhou hatte sein bisheriges Szenario um eine qingzeitliche Gespenstergeschichte erweitert. Yu überzeugte keine der beiden Theorien, aber er konnte selbst nicht mit einer befriedigenden Erklärung aufwarten.
Überrascht sah er plötzlich einen Jungen mit einem Stapel Zeitungen auf sich zukommen. »Sonderausgabe!« schrie der Verkäufer. »Leiche im roten qipao auf Friedhof gefunden!« Yu gab ihm ein paar Münzen und nahm sich gleich mehrere Ausgaben.
Der Streifenpolizist, der im Friedhof Dienst tat, hatte sich als abergläubisch und geschwätzig erwiesen. Nachdem er die Kollegen verständigt hatte, trug er selbst eifrig zur Verbreitung der Neuigkeit bei. Die Erwähnung des roten qipao schrillte durch die Nacht wie eine Sirene und ließ die Menschen erschauern.
Wie Yu befürchtet hatte, waren die Zeitungen voll mit Berichten über den jüngsten qipao -Mord. Die Journalisten kannten zwar die Identität der Leiche noch nicht, spekulierten aber bereits über den ungewöhnlichen Polizeieinsatz im Joy Gate, ein Reporter vermutete sogar einen Zusammenhang. Auch an abergläubischen Interpretationen mangelte es nicht.
In der Wenhui fand Yu einen ausführlichen Sonderbericht unter der Überschrift »Auf dem Lianyi-Friedhof«, der den Vorfall aus Sicht der Anwohner in den schauerlichsten Farben ausmalte:
In den Fünfzigern und Sechzigern war dies ein teurer und gut gepflegter Friedhof, der stets bewacht wurde; eine glückverheißende Ruhestätte, dem die drachenförmige Hügelkette im Hintergrund ein ausgezeichnetes Feng-Shui verlieh, was sich wiederum günstig auf die Nachfahren der Verstorbenen auswirkte. Eine solche Grabstätte konnten sich damals nur wohlhabende Shanghaier leisten. Sie ruhten dort in teuren Särgen, ausgestattet mit kostbaren Gewändern, Steppdecken und Schmuck, die ihnen in der Unterwelt nützlich sein würden.
Trotz seines guten Feng-Shui wurde der Friedhof, wie viele andere während der Kulturrevolution, zu einem Hauptziel der Roten Garden. Die Beisetzung in einem Sarg galt damals als feudalistisch, und man erklärte die dort Ruhenden kurzerhand zu »schwarzen Elementen«. Um diese »schwarzen Geister und Monster« zu denunzieren, wurden ihre Gräber von den Rotgardisten zerstört, die Leichen exhumiert und wie in der Pekingoper »mit dreihundert Hieben ausgepeitscht«. Manche Särge wurden im Zuge dieser Kampagne zum Austreiben der vier Übel – alte Ideen, alte Kultur, alte Gebräuche und alte Gewohnheiten – für die angebliche Suche nach kriminellen Beweisstücken geöffnet. Danach war der Friedhof praktisch verwüstet.
Nach dem Ende der Kulturrevolution wurde der politische Status einiger Toter wiederhergestellt, nicht aber ihre Gräber. Ihre Angehörigen waren zu erschüttert, um hier weiter den Ahnendienst zu verrichten. Manche Familien ließen die sterblichen Überreste ihrer Verstorbenen, sofern sie noch auffindbar waren, umbetten, worauf der Friedhof endgültig verfiel. Nur streunende Hunde waren noch unterwegs und buddelten bisweilen weiße Knochen aus. Anwohner berichteten von nächtens umgehenden Geistern, doch wie die Polizei schließlich herausfand, waren diese Schauergeschichten von abergläubischen Grabräubern in Umlauf gebracht worden.
Das lieferte einem einfallsreichen Bauunternehmer den willkommenen Vorwand. Er überzeugte die Behörden, daß der ungenutzte Friedhof ein schlechtes Licht auf die Stadt werfe und besser einer kommerziellen Nutzung zugeführt werden solle. Er erwarb das Gelände von der Stadt und plante, dort einen Golfplatz zu errichten. Doch es gibt Leute, die auch im Zeitalter von Wissenschaft und Technologie an ihrem Aberglauben festhalten. Sie sahen in der Umwidmung des Geländes eine unverzeihliche Störung der Totenruhe. Einige ältere Anwohner befürchteten, die Toten könnten aufstehen und unter den Lebenden umgehen. Zu ihrer Beruhigung ließ der Unternehmer Tonnen von Feuerwerkskörpern abfackeln und einen Feng-Shui-Meister in einem öffentlichen Artikel versichern, das Feng-Shui sei nach den Katastrophen der Kulturrevolution nun wiederhergestellt und dank der neuen U-Bahn, die in der Nähe verlief, könne die »Energie des Drachen« diesem Ort nun erneut zugeführt werden. Jetzt hat der Fund einer Leiche im roten qipao die Menschen wieder an all die abergläubischen Geschichten erinnert, die mit diesem Ort verknüpft sind. Ein alter Heimatkundler vermutet sogar, daß die Mordserie durch die Entweihung des Friedhofs erst
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