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Blut und rote Seide

Blut und rote Seide

Titel: Blut und rote Seide Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Qiu Xiaolong
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Bewohner gingen weg.«
    »Und warum ist die Familie Ming nicht zurückgekehrt?«
    »Die Umsetzung dieser neuen Politik ging nicht reibungslos vonstatten. Was sollte mit den bisherigen Bewohnern geschehen? Natürlich sind manche von ihnen illegal während der Kulturrevolution dort eingezogen, aber auch sie brauchten ja eine Unterkunft. Daher hat die Regierung versucht, die Häuser von den ursprünglichen Besitzern zu erwerben. Sie konnten ablehnen, aber Ming, der Sohn der Hausbesitzer, hat zugestimmt. Er hat sich das Anwesen nicht einmal angeschaut. Später wurde das Haus in ein Restaurant umgewandelt. Aber das ist eine andere Geschichte.«
    »Darf ich Sie hier kurz unterbrechen«, warf Chen ein. »Wie heißt der Sohn mit vollem Namen?«
    »Da muß ich nachsehen.« Sie schlug ein Adreßbuch auf und blätterte darin. »Leider ist er hier nicht verzeichnet. Ein sehr erfolgreicher Mann, soweit ich weiß.«
    »Danke für Ihre Mühe«, sagte Chen. »Wieviel hat er denn für das Anwesen bekommen?«
    »Die Verkäufe wurden von der Bezirksverwaltung abgewickelt. Wir hatten damit nichts zu tun.«
    »Haben Sie Unterlagen darüber, was während der Kulturrevolution mit den Mings geschah?«
    »Aus dieser Zeit gibt es kaum Aufzeichnungen. In den ersten Jahren waren die Nachbarschaftskomitees praktisch lahmgelegt, und die wenigen existierenden Aktenordner, die die Zeit zwischen 1966 und 1970 betrafen, hat mein Vorgänger weggeworfen.«
    »Der vorige Leiter des Nachbarschaftskomitees?«
    »Ja, er starb vor fünf oder sechs Jahren.«
    »Vergessen ist einfach«, bemerkte Chen, »aber eine Frage muß ich Ihnen noch stellen. Mings Mutter, Mei, starb während der Kulturrevolution. Vermutlich war es ein Unfall. Haben Sie davon gehört?«
    »Das liegt so viele Jahre zurück! Warum?«
    »Es könnte im Zusammenhang mit einem Mordfall von Bedeutung sein.«
    »Wirklich!«
    »Ich habe schon von Oberinspektor Chen gehört«, schaltete sich ihr Mann erstmals in das Gespräch ein. »Er hat wichtige Ermittlungen geleitet«, erklärte er seiner Frau.
    »Wir haben nur deshalb von der Familie Ming erfahren, weil Pan, der Besitzer des Alten Herrenhauses, krumme Sachen gedreht hat.«
    »Das klingt interessant. Bitte erzählen Sie.«
    »Sobald Ming das Anwesen an den Staat verkauft hatte, interessierte sich Pan sehr dafür. Aber keiner der Bewohner wollte ausziehen. Außerdem gab es eine Reihe weiterer Interessenten. Da setzte Pan das Gerücht in die Welt, daß es in der Villa spuke. Diese Gespenstergeschichte hat sich rasch verbreitet, so daß wir uns schließlich damit befassen mußten.«
    »Sie haben wirklich viel am Hals, Genossin Weng.«
    »Das ironische daran war, daß diese Schauermärchen, wie wir später herausfanden, viel weiter zurückreichten und schon während der Kulturrevolution in Umlauf gebracht worden waren, und zwar von einer Familie Tong, die im Garagenanbau wohnte. Die Tongs behaupteten, seit Meis Tod seien in der Dachkammer über ihnen Geräusche zu hören, auch Schritte auf der Treppe, nachdem der Sohn längst ausgezogen war. Die Nachbarn hatten Zweifel an den Umständen ihres Todes und behaupteten, ihr sei Unrecht geschehen. Insofern war die Annahme naheliegend, ihr Geist sei zurückgekehrt und spuke nun da oben herum. Weil niemand sonst dort wohnen wollte, hat man den Tongs schließlich den Dachboden überlassen …«
    »Jetzt muß ich Sie schon wieder unterbrechen. Sie erwähnten, daß Meis Tod zu Zweifeln Anlaß gab. Wieso das?«
    »Genaues weiß ich nicht, aber ihre Familie hat Schweres durchgemacht während der Kulturrevolution. Mei hatte ihren Schwiegervater und ihren Mann verloren und mußte mit dem Sohn in den Garagenanbau ziehen. Im zweiten oder dritten Jahr geriet auch der Junge in Schwierigkeiten. Und dann kam sie eines Tages splitternackt aus ihrer Dachkammer gerannt und stürzte die Treppe hinunter. Vielleicht hat sie diese Schicksalsschläge nicht verkraftet und erlitt einen Zusammenbruch. Dennoch, die Umstände ihres Todes waren rätselhaft.«
    »Ist das im Sommer passiert?«
    »Nein, im Winter. Damals hieß es, sie sei in der Badewanne gewesen. Aber das halte ich für ausgeschlossen. Da oben gab es nicht mal eine Heizung, geschweige denn ein Bad«, sagte Weng kopfschüttelnd. »Pan hat gute Arbeit geleistet mit seinen Gruselgeschichten. Bald waren alle Bewohner, einschließlich der Tongs, überzeugt, daß es im ganzen Anwesen spukte. Unfälle passierten, und die Leute gerieten in Panik. Er bot Ausgleichszahlungen

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