Blut und rote Seide
an, und schließlich sind alle ausgezogen.«
»Haben Sie bei Ihren Nachforschungen sonst noch etwas über Meis Tod herausgefunden?«
»Unabhängig von diesen abergläubischen Geschichten berichtete einer der Bewohner von sonderbaren Geräuschen, ein Stöhnen und Jammern, das er in der Nacht vor der Freilassung des Jungen gehört haben wollte – vorher, danach dann aber nie wieder. Die Tongs bestätigten das, auch sie hatten in jener Nacht jemanden weinen gehört. Doch nachdem der Junge frei war, wollten sie sich nicht mehr darauf festlegen.«
»Hatten die Nachbarn jemanden bei Mei im Zimmer gesehen – eine Person, die kam oder ging?«
»Die Tongs hatten etwas gehört, das wie das Grunzen eines Mannes geklungen hatte, aber sie waren sich nicht so sicher nach all den Jahren.«
»Lebt hier in der Gegend noch jemand, der etwas über die Mings weiß, jemand, den ich befragen könnte?«
»Tja, die meisten von damals sind weggezogen, wie gesagt. Aber ich werde mich umhören. Mit etwas Glück kann ich bis nächste Woche eine Liste für Sie zusammenstellen. Es müßten schon noch welche dasein.«
Ob sie jemanden finden würde, war ungewiß, jedenfalls würde es Tage dauern. Morgen war schon Donnerstag. Und vor dem Wochenende würde es ein neues Opfer geben.
Sie konnte ihm im Moment nicht weiterhelfen. Widerstrebend erhob er sich, als der Ehemann sich erneut einschaltete.
»Es gibt einen Mann, mit dem Sie sprechen könnten, Genosse Oberinspektor Chen. Genosse Fan Dezong. Er war Nachbarschaftspolizist hier, ist aber mittlerweile in Ruhestand.«
»Wirklich! Könnte ich ihn heute abend noch aufsuchen?« Als Nachbarschaftspolizist würde er sicher in der Nähe wohnen.
»Er hat noch ein kleines Zimmer hier, verbringt aber die meiste Zeit bei seinem Sohn, um auf seinen Enkel aufzupassen. Frühmorgens ist er normalerweise da und an den Wochenenden. Er überwacht nämlich den Bauernmarkt.«
»Haben Sie vielleicht die Adresse oder Telefonnummer seines Sohnes?«
»Nein, leider nicht«, erwiderte Weng. »Aber morgen früh können Sie ihn eigentlich nicht verfehlen.«
»Zwischen fünf und halb sieben«, präzisierte der Mann. »Er dreht seine Runde immer ganz pünktlich, selbst im kältesten Winter. Ein Polizist der alten Schule.«
»Sehr gut. Und vielen Dank für Ihre Hilfe.«
Chens Mobiltelefon klingelte. Er zuckte entschuldigend mit den Schultern, bevor er den Anruf entgegennahm.
»Ich bin es, Xiang. Über den Sohn konnte ich noch nichts herausfinden, aber ich erinnere mich, daß Mei ihn ›Xiao Zheng‹ rief. Läßt man die Verkleinerungsform weg, so könnte er Ming Zheng geheißen haben. Außerdem bin ich auf ein altes Notizbuch gestoßen. Der Name des Genossen Revolutionäre Aktivität war Tian, aber er kam nicht vom Shanghaier Stahlwerk Nummer drei.«
»Das könnte von Bedeutung sein. Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll, Professor Xiang.«
»Ich werde morgen noch ein wenig herumtelefonieren, wegen des Sohnes. Sobald ich etwas weiß, rufe ich Sie an.«
Chen klappte sein Mobiltelefon zu und hätte beinahe vergessen, daß er sich noch im Zimmer des Nachbarschaftskaders befand. Verwirrt wandte er sich ihr zu.
»Nochmals vielen Dank, Genossin Weng.«
»Ihr Besuch war uns eine große Ehre«, erwiderte sie und brachte ihn zur Tür. »Ich werde mich gleich morgen umhören. Wie ich sehe, ist es dringend. Auf der Hengshan Lu finden Sie sicher gleich ein Taxi. Es wird kalt werden heute nacht.«
25
DIE NACHTLUFT WAR eisig.
Er ging Richtung Hengshan Lu. Ein Blick auf seine Uhr sagte ihm, daß es mittlerweile auf halb zehn ging.
Die Hengshan Lu dehnte sich vor ihm wie ein Band Neonlichter, eine glitzernde Kette aus Restaurants und Nachtclubs. Erst kürzlich hatte er mit Weißer Wolke eine dieser nostalgischen Bars besucht.
Wo sie wohl heute nacht war? Wieder in einer Bar? In Gesellschaft eines anderen?
Er hatte es nicht eilig, nach Hause zu kommen.
Einige der Mosaiksteinchen, die er gesammelt hatte, fügten sich plötzlich zusammen. Nun mußte er dafür sorgen, daß sie ein Bild ergaben, bevor sich seine halbfertigen Vermutungen in die frostige Nacht verflüchtigten.
Zum Alten Herrenhaus war es nicht weit. Auch um diese späte Stunde hell erleuchtet, rief es Erinnerungen an das niemals schlafende Shanghai der dreißiger Jahre wach. Zu Meis Zeiten, so überlegte er, dürfte das anders gewesen sein.
Er trat ein und wartete in dem imposanten Entree, bis die Empfangsdame ihm einen Tisch zuwies. Das Geschäft
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