Blut von meinem Blut: Thriller (German Edition)
kannte die Wahrheit. «
» Er hat es vor ihnen verborgen « , sagte Jazz leise. » Aber in deiner Gegenwart hat er die Deckung heruntergenommen. «
» Vermutlich. Ich weiß nicht, warum. Vielleicht hielt er es für witzig, einen Menschen die Wahrheit sehen zu lassen … Ich weiß es nicht. Er hat gewisse Grenzen nicht überschritten, jedenfalls nicht, wenn ich dabei war. Ich wusste, er hatte das eine oder andere Haustier getötet, streunende Katzen oder Hunde. Aber ich konnte es nie beweisen. Und wenn man damals so etwas tat, haben die Leute nur mit den Achseln gezuckt und dich überspannt genannt. Es war anders damals. « Sie hielt kurz inne, fuhr dann fort: » Von außen wirkte er normal. Er neckte und ärgerte mich. Ich war seine ältere Schwester. Das ist normal. Er machte sich an meinen Barbiepuppen zu schaffen … « Sie schauderte plötzlich bei der Erinnerung. » Ich meine, ich habe gehört, dass viele Jungs das mit den Puppen ihrer Schwestern machen. Aber da war etwas … Er hat ihnen nicht nur die Haare abgeschnitten oder sie bemalt. Er hat … er hat, na ja, ihnen die Brüste weggeschnitten und … «
» So wie er es später getan hat « , flüsterte Jazz ehrfürchtig. » Als Green Jack. «
Samantha schauderte. » Green Jack. O Gott. So hat er sich manchmal genannt. Er war noch ein Kind, und es gab Tage, da sagte er: ›Ich bin nicht mehr da. Da ist jetzt nur noch Green Jack.‹ Mom und Dad haben es nicht bemerkt, oder es war ihnen egal, aber mich hat es zu Tode erschreckt. Ich dachte immer, dass er es genau deshalb tat – um mich zu erschrecken. Und als sie ihn dann verhaftet haben, hat ein Teil von mir immer noch gedacht … immer noch gedacht: ›Das hat er alles nur getan, um mich zu erschrecken.‹ Was verrückt ist, oder? «
Jazz betrachtete sich als Experten in puncto Verrücktheit. Soweit er feststellen konnte, war Tante Samantha nicht einmal annähernd verrückt.
» Hätte ich nur eine Zeitung aus dem Osten gelesen damals, als er sich Green Jack nannte. Vielleicht wäre er früher gefasst worden … « Sie hatte Mühe, die Fassung zu bewahren.
» Tante Samantha … « , warnte Jazz. Er spürte – wusste –, sie waren unterwegs zu dunklen Gefilden, hinab in die Minen der Erinnerung, wo das Erz am dichtesten und die Gefahr am größten war. Aber er konnte sie nicht mehr aufhalten.
» Eines Nachts « , fuhr sie fort, » wachte ich auf, und er stand da, in meinem Schlafzimmer. Im Dunkeln. Ich war vierzehn, also muss er elf gewesen sein. Vielleicht zehn. Ich weiß nicht mehr, welche Zeit im Jahr es war. Aber er stand einfach da. Nackt. Und starrte mich an. «
» Hat er … «
» Nein, nein. Er hat mich nie angefasst. Und ich hatte nie Angst davor, wenn du die Wahrheit wissen willst. Irgendwie wusste ich, dass ich nicht in Gefahr war. Ich glaube … Ich glaube, weil ich mit ihm verwandt war, kam ich irgendwie nicht infrage. Damals jedenfalls. Heutzutage, wer weiß? Vielleicht hat er sich verändert. «
Konnte er sich verändert haben? Jazz hielt es für möglich. Aber eine Veränderung musste nicht immer zum Besseren sein.
Genau in diesem Augenblick hörten sie von oben ein leises Poltern. Durch Tante Samantha ging ein Ruck, als wäre sie glücklicherweise aus einem Albtraum erwacht, und in der Küche wurde es irgendwie heller, als es dem Sonnenstand nach hätte sein dürfen.
» Sie ist früh dran « , sagte Samantha barsch, stand auf und stellte ihre Kaffeetasse in die Spüle. » Ich helfe ihr, sich zurechtzumachen. Vielleicht kannst du schon mal Frühstück vorbereiten? «
» Natürlich. Ach, Tante Samantha? «
Sie blieb in der Tür stehen. » Ja? «
» Ich habe es mir überlegt. Du kannst mich Jazz nennen. «
22
Connie saß mit geschlossenen Augen in der Lotus-Stellung auf ihrem Bett, die Handgelenke leicht auf den Knien. Es gab ein einziges Yoga-Studio in Lobo’s Nod, und Connie mochte die Frau nicht, die dort Kurse gab, deshalb hatte sie nach drei Stunden hingeschmissen. Ginny Davis – die arme, tote Ginny – hatte Conny einige Yoga- DVD s geliehen, die aussahen, als stammten sie aus der grauen Vorzeit der 1990er. Andererseits wurde Yoga seit ewigen Zeiten praktiziert, möglicherweise passte es also ganz gut.
Jedenfalls hatte sie durch diese DVD s viel gelernt, Techniken zur Entspannung, die sie besonders vor einer Vorstellung einsetzte. Im Moment fiel es ihr allerdings schwer, sich zu zentrieren. Sie bekam diese tiefen, reinigenden Yoga-Atemzüge nicht hin, nach denen sie
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