Blutbeichte
Freund von mir bist und dass es um den ersten Todestag von William geht. Wenn du nach den anderen Opfern fragst, kannst du sagen, dass sie Freunde waren. Buck Torrance ist auf jeden Fall diskret.«
»Danke, Mark. Wir fahren morgen zu ihm. Wie geht es Kevin?«
»Danke, gut. Und was macht Anna?«
»Geht so. Pass auf dich auf.«
»Du auch.«
Joe verließ das Büro, doch anstatt sofort nach Hause zu fahren, beschloss er, Old Nic zu besuchen, auch wenn er sich damit der Wehmut aussetzte, durch Bensonhurst zu fahren. Es war, als wären hier sämtliche Spuren seiner Kindheit zusammen mit den alten Ladenfassaden verschwunden. Joe wusste, dass er nie mehr ein vertrautes Gesicht in den Straßen sehen würde. Fast alle seine Bekannten waren in den Neunzigerjahren über Staten Island in Richtung Westen gezogen.
Joe bog von der Sechsundachtzigsten links ab und fuhr kurz darauf an dem Haus vorbei, in dem er aufgewachsen war; dann an Dannys Elternhaus. Doch Joe brachte es nicht fertig, auch an der Wohnung vorbeizufahren, in der er nach der Scheidung seiner Eltern drei Jahre lang mit seiner Mutter und seiner Schwester gewohnt hatte. Für Joe waren diese drei Jahre noch immer eng mit der Krebserkrankung seiner Mutter verbunden.
Joe hatte seine geschwächte, ängstliche Mutter damals jedes Mal ins Krankenhaus begleitet. Er erinnerte sich an ihren ersten Termin im Kings County Hospital, als er vierzehn Jahre alt gewesen war. Maria Lucchesi hatte ihrem Sohn gesagt, es sei bloß eine Routineuntersuchung. Joe hatte auf dem Flur gewartet, während seiner damals sechsunddreißigjährigen Mutter Brustkrebs diagnostiziert worden war.
Joe wusste, es würde ihm das Herz brechen, wenn er an dem alten Wohnhaus vorbeifuhr. Einmal hatte er geglaubt, er würde seine Mutter die Eingangstreppe hinuntersteigen sehen – eine kleine, rundliche Frau in einem roten Mantel, wie seine Mutter ihn damals oft getragen hatte. Die Frau hatte Maria Lucchesi so ähnlich gesehen, dass Joe angehalten, den Kopf aufs Lenkrad gelegt und wie ein Kind geweint hatte.
Joe hielt vor Nicoteros kleinem Farmhaus, stieg aus und ging zur Eingangstür. Er klingelte und hörte das vertraute Schlurfen von Old Nics Pantoffeln, als er zur Tür kam.
»Joe!« Victor Nicotero umarmte ihn. »Was für eine nette Überraschung.«
»Wenn ich durch Bensonhurst fahre, überkommen mich jedes Mal nostalgische Gefühle«, sagte Joe.
»Das kann ich verstehen, mein Junge«, erwiderte Nic. »Komm rein.«
Joe setzte sich neben Old Nic an einen kleinen Metalltisch auf der Veranda.
»Wie läuft’s mit Bobby?«, fragte Nic, öffnete eine Flasche Bier und reichte sie Joe.
Joe nahm einen Schluck. »Ganz gut.«
»Ehrlich? Das hört sich aber nicht so an. Ich glaube, du bist anders als er.«
Joe schaute ihn lächelnd an. »Was?«
»Veräppel mich nicht. Ihr seid viel zu unterschiedlich, um gut miteinander auszukommen.«
»Kann schon sein.«
»Und weil wir befreundet sind, hast du bei ihm ohnehin schlechte Karten.«
»Sein Problem.« Joe zuckte mit den Schultern.
»Was hast du auf dem Herzen? Geht’s um den Job oder um etwas Angenehmes?«
»Es geht um etwas, das eigentlich angenehm sein sollte. Aber leider habe ich alles vermasselt.« Joe ließ den Blick über den gepflegten Garten schweifen. »Ich mache mir Sorgen um Anna.«
»Was ist denn mit ihr?«, fragte Nic.
»Sie hat gestern die Nerven verloren. Du weißt ja, dass sie viel allein zu Hause ist. Gestern hatte sie sich endlich ein Herz gefasst und ist in die Stadt gefahren, weil sie einen Auftrag übernehmen wollte.« Joe seufzte traurig. »Tja, sie hat es bis zu dem Hotel geschafft, wo das Fotoshooting stattfinden sollte, dann bekam sie einen Panikanfall.«
»Was ist passiert?«
»Ich weiß nicht. Sie hat mir nicht die ganze Geschichte erzählt. Nur dass sie das Gefühl hatte, erdrückt zu werden. Sie hat sich das erstbeste Taxi nach Hause genommen und hat sich in der Wohnung verbarrikadiert. Sie hat sogar das Telefon abgestellt und nicht mal ihrer Chefin Bescheid gesagt. Heute hat sie ihr Telefon wieder nicht eingeschaltet, weil sie Angst hat, ihren Job zu verlieren.«
»Tut mir leid, das zu hören«, sagte Nic. »Dann geht es dir wohl auch nicht besonders?«
»Es ging mir schon mal besser«, gab Joe zu.
»Patti und ich haben auch schwere Zeiten hinter uns«, sagte Nic. »Weißt du, was mein größter Fehler war? Ich dachte, nur sie müsste sich ändern.«
Joe starrte schweigend auf die Risse im Betonfußboden der
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