Blutbeichte
Joe wurde ungeduldig. »Es mag ja sein, dass viele Leute die Schlüssel haben, aber wie viele von denen werfen Briefe ein, die an einen Detective adressiert sind, der die Ermittlungen in einem Serienmord leitet?«
»Mord? Sie ermitteln doch nicht etwa in dem Fall dieses Besuchers? Sie glauben doch nicht … Mein Gott, das kann doch nicht wahr sein! Warum schickt Mary Ihnen diese Briefe?«
»Das würden wir auch gern wissen. Wenn Mary wirklich die Briefe geschrieben hat, stellt sich natürlich die Frage, warum sie es getan hat. Und warum Sie diese Briefe einwerfen, ohne angeblich auf die Adresse oder den Namen der Person zu schauen, die den Brief bekommen soll.«
»Ich wusste nicht, was ich eingeworfen habe!«, verteidigte Stan sich. »Wenn ich geglaubt hätte, irgendetwas daran wäre faul, wäre ich nicht am helllichten Tag zur Poststelle auf demAstoria Boulevard gegangen und hätte die Briefe eingeworfen, ohne vorher wenigstens Handschuhe anzuziehen. Tut mir leid, dass ich Ihnen Unannehmlichkeiten bereitet habe, aber das wusste ich alles nicht. Sprechen Sie mit Mary darüber. Sie wird alles aufklären.«
»Gute Idee«, sagte Joe zu Danny.
»Dann kann ich jetzt gehen, nicht wahr?« Stan wollte aufstehen.
Danny hob die Hand. »Ich fürchte, so schnell geht das nicht. Sie müssen schon noch warten, mein Freund, während mein Partner und ich dem Colt-Emory-Heim einen Besuch abstatten.«
»Embry«, korrigierte Stan ihn. »Colt-Embry-Heim. Sie müssen mit Julia Embry sprechen. Sie ist die Chefin.« Er schüttelte betrübt den Kopf. »Dort wohnen gute Menschen.«
Madeline Colt und Julia Embry, die Gründerinnen der Reha-Klinik, waren sich das erste Mal 1992 im Mount Sinai Hospital in Queens begegnet, als sie ihren Söhnen, beide um die siebzehn, beim Malen zugeschaut hatten. Einer der Jungen, Julias Sohn Robin Embry, saß vor einer Staffelei, die so eingestellt war, dass er malen konnte, obwohl er im Rollstuhl saß. Der andere führte den Pinsel mit Hilfe einer Krankenschwester.
Nachdem die beiden Frauen einander kennengelernt hatten, war der Plan gereift, sich für den Bau einer Klinik zu engagieren. Nach zehn Jahren Öffentlichkeitsarbeit und Spendensammeln wurde die Rehabilitationsklinik Colt-Embry gegründet, um Patienten mit Schädel-Hirn-Traumen zu helfen.
Die Klinik stand auf einem großen Grundstück zwischen der Neunzehnten und Einundzwanzigsten Straße in Astoria. Im Nordosten lag das Colt-Embry-Heim, ein kleiner Wohnblock mit zwanzig Apartments; dieses Heim sollte den Patienten den Übergang erleichtern, wenn sie nach der Reha nach Hause zurückkehrten.
Julia Embry saß hinter ihrem Schreibtisch und drückte vorsichtig ein Kleenex unter ihre Augen, um die Tränen abzutupfen, ehe die Wimperntusche verschmierte. Sie hielt ein Foto ihres Sohnes Robin in der Hand. Es war auf der Feier seines achten Geburtstags aufgenommen worden. Er trug einen großen schwarzen Piratenhut und ein weißes Hemd; um seinen Hals war ein rotes Halstuch gebunden. Neben seinem Teller lag eine Augenbinde, daneben stand ein Glas Orangensaft. Der hübsche blonde Junge strahlte übers ganze Gesicht.
Julia hatte schon einmal Besuch von zwei Detectives bekommen. Damals hatte man ihr mitgeteilt, dass Robin einen schweren Autounfall erlitten habe. Er war siebzehn Jahre alt gewesen, als der Wagen, an dessen Steuer er saß, mit einem anderen Fahrzeug zusammenstieß und der andere Unfallbeteiligte Fahrerflucht beging. Robin wurde auf dem schnellsten Weg ins Krankenhaus gebracht.
Seine Brüche wurden gerichtet, und seine Wunden heilten schließlich. Doch seine Hirnschädigung war so schwer, dass er starb, nachdem er ein Jahr lang behandelt worden war. Der Polizei war es nie gelungen, den flüchtigen Fahrer des anderen Wagens zu fassen.
Jemand klopfte an die Tür.
Julia stellte das Foto auf den Schreibtisch, stand auf und öffnete.
Joe und Danny standen im Flur.
»Guten Tag, Mrs Embry«, sagte Joe und stellte sich und Danny vor. »Ich hatte angerufen.«
»Ah, Sie sind es«, sagte Julia. »Bitte, treten Sie ein.«
Sie führte die Detectives ins Wohnzimmer und bat sie, Platz zu nehmen.
»Zuerst einmal«, begann Julia, »möchte ich Ihnen versichern, dass Stanley Frayte absolut integer ist. Er ist mein bester Mitarbeiter, seit Jahren schon. Er hat nur versucht, Mary zu helfen, wissen Sie? Aber er weiß nicht alles über dieBewohner. Er arbeitet zwar schon zehn Jahre für mich und die Klinik, aber hier im Wohnheim ist er erst seit ein
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