Blutbeichte
paar Wochen beschäftigt.« Sie lächelte wehmütig. »Der arme Stan.«
»Wir würden gern über Mary Burig mit Ihnen sprechen«, sagte Joe.
»Ja, sicher. Was möchten Sie wissen?«
»Erzählen Sie uns bitte, warum sie hier wohnt.«
»Mary wurde im letzten Jahr gefunden, als sie drei Blocks von ihrem Wohnhaus entfernt durch die Straßen irrte. Jemand hatte sie brutal geschlagen. Im Krankenhaus haben die Ärzte ein Schädel-Hirn-Trauma diagnostiziert. Mary konnte sich nicht erinnern, was vorgefallen war.«
»Sie hat also nie über den Überfall gesprochen?«
Julia schüttelte den Kopf. »Nein. Wie ich schon sagte, sie kann sich nicht erinnern. Aber das ist nicht weiter ungewöhnlich, wissen Sie. Es ist so, als würde das Gehirn einen Abwehrmechanismus aktivieren.«
»Können Sie uns etwas über Marys Situation und ihren Zustand sagen?«, bat Joe.
»Mary hat eine Schädel-Hirn-Verletzung erlitten.«
»Könnten Sie uns das genauer erklären?«
»Nun, Marys Charakter hat sich im Grunde nicht verändert, aber nach der Verletzung hat sie sich neue Verhaltensmuster angeeignet. Jeder Patient wird individuell behandelt. Hier, schauen Sie. Das ist Marys Therapieplan.« Julia reichte den Detectives eine Kopie. Joe überflog die zwölf Seiten über Marys Behandlung und über die Einzelheiten, wie ihr jede einzelne Maßnahme helfen sollte. Bei dem Behandlungskonzept der Psychiatrie verharrte er.
Verletzung: Hirnschädigung. Folgen und Auswirkungen: emotionale Unbeständigkeit und Schwierigkeiten, klare Gedanken zu fassen.
Joe hob den Blick. »Wenn Mary versteht, was sie in diesen Briefen geschrieben hat …«
»Nein, das wird sie wohl nicht, Detective. Möglicherweise erinnert sie sich nicht einmal daran, die Briefe geschrieben zu haben.«
»Nehmen wir mal an, sie erinnert sich doch. Können wir davon ausgehen, dass es stimmt, was sie uns mitteilt?«
»Ja, das würde ich schon sagen. Wenn Sie es entziffern können.«
Danny schaute von seinem Notizblock auf. »Wie könnte es zu ihrer Verletzung gekommen sein?«
»Wie Sie wissen, werden Krankenberichte streng vertraulich behandelt. Mary müsste ihr Einverständnis geben, dass Sie ihre Krankenakte einsehen. Oder ihr Betreuer müsste seine Zustimmung erteilen.«
»Wer ist ihr Betreuer?«
»Ihr älterer Bruder, David Burig.«
»Wir würden von Ihnen gern mehr über David erfahren, falls möglich«, sagte Joe.
»Sicher. Mary kann von Glück sagen, dass sie David hat. Viele Menschen mit einem Schädel-Hirn-Trauma haben keine Unterstützung und keine Hilfe. Es gibt nicht viele Zentren wie das Colt-Embry. Meist werden die Patienten vom Krankenhaus in die Reha-Klinik geschickt. Anschließend sind sie wieder auf sich allein gestellt. Sie kommen nach Hause, und man erwartet von ihnen, dass sie wieder genauso sind wie vor der Verletzung. Aber das ist absurd. Und viele Menschen sind nicht ausreichend versichert, um in einem solchen Haus untergebracht zu werden. Sie müssen schon eine reiche Familie haben, um die Reha bezahlen zu können. Können Sie sich das vorstellen? Nur um wieder ein halbwegs normales Leben führen zu können? Es ist verrückt. Und weil viele Patienten äußerlich genauso aussehen wie vor der Verletzung, erwarten die Leute, dass sie sich auch wieder ganz ›normal‹ verhalten. Tun sie es nicht, kommt ihre Umwelt nur selten damit zurecht. Es ist für alle sehr schwer, sich darauf einzustellen.«
»Wie macht Marys Verletzung sich im täglichen Leben bemerkbar?«
»Mary leidet an einer Schädigung des rechten Schläfenlappens. Der Schläfenlappen ist für das Erinnerungsvermögen, die emotionale Stabilität und die Fähigkeit zuständig, versteckte Andeutungen im sozialen Miteinander zu interpretieren, was im täglichen Leben sehr wichtig ist. Eine Person, deren rechter Schläfenlappen eine Schädigung aufweist wie bei Mary, hat Probleme, einen Gesichtsausdruck richtig zu deuten oder den Klang einer Stimme. Ein solcher Mensch kann schwer erkennen, ob jemand wütend oder traurig ist. Außerdem haben solche Leute Schwierigkeiten, Stimmlagen zu unterscheiden. Auch ihre eigene Sprache, ihre Artikulation ist ziemlich ausdruckslos. Mary könnte keinen Sarkasmus in Ihrer Stimme erkennen, keine Erheiterung, keine Trauer, verstehen Sie? Alles Nonverbale – Gesichter, Musik, Formen – bereitet ihr Probleme. Marys Langzeitgedächtnis ist größtenteils intakt, doch mit dem Kurzzeitgedächtnis hat sie Schwierigkeiten. Sie könnte sich zwar erinnern, dass heute
Weitere Kostenlose Bücher