Blutbuchen - Ein Altmarkkrimi (Judith Brunners erster Fall) (German Edition)
Sie wissen schon. Also zogen wir uns so viele Sachen wie möglich übereinander, ohne bewegungsunfähig zu werden. Wir schnürten unsere Gepäcksäcke auf und los ging’s. Und wir hatten wirklich Glück. So gerieten wir selten in Gefahr, lediglich einmal«, sie holte tief Luft, »einmal stießen wir auf einen Treck, der beschossen worden war. Alle waren sie tot, die Kinder, die Frauen und die Alten. Es war grausam. Nun, von dort nahmen wir einen Schlitten mit Vorräten mit und das half uns, ein enormes Stück voranzukommen.« Sie verstummte einen Moment. »Ein anderes Mal fanden wir zwei Tote. Ein greises Paar, erfroren. Und wir fragten uns, was mit unseren Eltern wohl geschehen wäre, hätten sie mit auf diesen grässlichen Weg gemusst.«
»Lass gut sein, Anne.«
Doch sie fuhr fort: »Immer wieder stießen wir auf Hinterlassenschaften von anderen Flüchtlingen, manchmal lagen die Toten noch dabei, manchmal aber war niemand mehr zu sehen und wir fingen an, ihre Sachen auf Brauchbares hin zu durchsuchen. Wir waren jung, es ging uns schlecht und wir dachten, das Recht dazu zu haben. Und tatsächlich fanden wir Nahrungsreste, oder wir nahmen wärmende Kleidung mit, und manchmal fanden wir auch wertvollere Dinge: Uhren oder Schmuck, na ja, und das nahmen wir auch mit.«
Es blieb ruhig im Zimmer. Auch von draußen drang kein Geräusch herein. Was sollte Judith Brunner mit diesem Geständnis anfangen? Das war nicht das, was sie hören wollte. Was sollte das jetzt? Kein Mensch würde heute die beiden Frauen mehr dafür zur Rechenschaft ziehen können. Und auch nicht wollen.
»Stammen daher Ihre ›Rücklagen‹, der eben erwähnte ›Familienschmuck‹?« Ein Nicken von Emily Winter bestätigte Judiths Vermutung.
Anne Winter hatte wohl beschlossen, sich nicht mehr am Gespräch zu beteiligen.
Emily redete jetzt: »Na ja, und kurz bevor wir hier nach Waldau kamen, wurden wir dann überfallen.«
»Von Emil Winter?«
»Ja. Wir wussten natürlich nicht, wer das war. Hatten ihn nie zuvor gesehen. Er muss uns aufgelauert haben. Wir liefen nicht beieinander, ich ging ein Stück voran. Der Wald war schier undurchdringlich, es gab keinen Weg. Plötzlich hörte ich Anne laut kreischen, und als ich mich umdrehte, sah ich, wie sie mit einem Mann rang. Sie schrie und rief nach mir, und der Kerl brüllte auf sie ein. Ich wusste nicht, was los war und lief sofort hin. Anne lag auch schon unter ihm und schrie noch lauter. Nun, ich habe nicht lange überlegt und mich sofort auf den Mann gestürzt. Doch meine Schläge auf seinen Rücken blieben völlig wirkungslos und Anne schrie noch verzweifelter. Da habe ich dann das Messer gezogen und zugestochen. Ich wollte ihn nicht umbringen, wirklich nicht, doch das Messer ging leicht durch seinen Mantel durch und ganz tief in seinen Rücken rein. Und dann lag er einfach still da. Und auch Anne rührte sich nicht mehr. Es gelang mir nicht, sie unter ihm hervorzuziehen. Da habe ich ihn einfach mit letzter Kraft zur Seite gestoßen. Na ja, und dann erschien Heitmann dort und hat uns nur angestarrt. Nach einer Weile, als Anne zu sich gekommen war, hat er uns in das naheliegende Gehöft gebracht und gesagt, wir sollen dort warten, er kommt wieder.«
»Und?«
»Ja, er kam wieder, mit etwas zum Essen und frischem Wasser. Wir hatten uns ein wenig ausgeruht; es ging uns schon fast wieder gut. Bloß wussten wir nicht, was nun weiter werden sollte. Ich hatte immerhin einen Mann umgebracht. Und Anne war in fürchterlicher Verfassung. Dann machte Heitmann uns einen Vorschlag: Niemand brauchte etwas davon zu erfahren, er würde nichts erzählen und sich um alles kümmern. Wir müssten uns nur noch einen weiteren Tag hier verstecken. Und auf einmal war alles ganz einfach. Wir ließen ihn machen, was genau, war uns völlig gleichgültig. Am übernächsten Tag sagte er, wir könnten im Dorf unterkommen. Es gäbe dort ein Haus, da würden immer mal wieder Flüchtlinge einquartiert. Ja, und das war’s dann. Mehr fällt mir dazu nicht mehr ein.«
Einige Zeit blieb es still.
Judith Brunner blickte auf ihre Notizen. Ein paar offene Fragen fand sie noch. »Frau Winter, nach all dem, was Sie uns eben berichtet haben, bin ich etwas überrascht, dass Sie sich diesem für Sie fremden Mann so vorbehaltlos anvertrauten. Nach Ihren Erfahrungen auf der Flucht, dem überstandenen Überfall, hatten Sie denn keine Angst?«
»Was sollten wir denn machen? Hatten wir eine Wahl? Wir waren total erschöpft. Er bot uns eine
Weitere Kostenlose Bücher