Bluteis: Thriller (German Edition)
aufregen, weil das bis dahin ganz normal, ganz üblich sein wird. Der Mensch in zweihundert Jahren wird keinen Respekt mehr vor Toten haben. Wahrscheinlich ist die Welt voll mit Toten. Den Toten der Klimaerwärmung.
Vielleicht geht auch niemand zum Gletscherleichensuchen. Ganz einfach, weil keiner mehr da ist, der sich für solche Dinge interessiert, der die Zeit hat, sich um so etwas zu kümmern, weil überall Krieg um Nahrungsmittel und Lebensraum herrscht. Vielleicht ist es ganz gut, dass ich jetzt sterbe. So setze ich wenigstens keine Nachkommen mehr in die Welt, deren Kinder das alles erleben werden. Ja, meine lieben Enkel, ich erspare euch, meine Leiche nackt auf Facebook zu sehen, weil ich sterbe, bevor eure Mutter oder euer Vater aus mir geboren wird. Besser für uns alle. Viel besser.
Wenn nur endlich jemand käme, der mich fragt, vernimmt, verhört, schlägt, foltert. Ich will wissen, was sie wollen. Sie wollen uns doch nicht einfach hier tiefgefroren lagern. Sie werden doch irgendetwas mit uns anstellen.
Als hätten Sandras Gedanken die Kraft, die Handlungen anderer zu beeinflussen, stand plötzlich eine Person neben ihr. Sie hatte nicht gehört, wie sie durch den Spalt gekrochen war und sich neben dem Bett aus Eis aufgestellt hatte, auf dem Sandra lag und sinnierte. Sandras Oberkörper ruckte in die Höhe, und sie sah in die Augen der schwarzen Frau, die sie vor zwei Tagen mit der Schusswaffe bedroht hatte.
»Mein Name ist Kisi«, sagte die schwarze Frau auf Englisch.
»Sie wissen, wer ich bin«, antwortete Sandra, ebenfalls auf Englisch.
»Ich wusste nicht, dass Sie einen deutschen Akzent haben. Das Internet hinterlässt eben Spuren.«
»Sie wissen viel über mich.«
»Alles, meine liebe Natalija, alles.«
Fast alles, dachte Sandra und zwang sich, nicht zu lächeln. Natalija also. Ich werde für eine Natalija gehalten. Russin, wahrscheinlich. Oder aus einer der ehemaligen Sowjetrepubliken. »Was wollen Sie von mir?«, verlangte sie mit festem Blick zu erfahren.
»Das, was wir alle wollen. Eine bessere Welt.«
»Wie kann ich helfen?«
»Sehr schön. Alle unsere Gäste können uns helfen. Aber diese Frage habe ich von den anderen noch nicht gehört.«
»Gäste? Sie haben Nerven.«
»Das muss man in meinem Job.«
»Was ist das für ein Job? Diplom-Terroristin?« Sandra hatte das Gesicht dieser Frau gesehen. Die würden sie bestimmt nicht lebend gehen lassen. Also konnte sie ruhig frech sein.
Die Frau blieb ruhig. Sie machte eine Pause und dachte nach. »Wenn Sie so wollen, gar nicht falsch. Ich habe in meinem Leben alles gelernt, was einen zu einer Top-Terroristin macht. Das haben aber viele. Ich jedoch weiß auch, warum ich es tue.«
»Aha«, entgegnete Sandra. »Denken das nicht alle?«
»Es ist schade, dass Sie auf der falschen Seite geboren wurden, Natalija.«
»Kommt auf den Blickwinkel an. Ich dachte bisher, es wäre die richtige.«
»So kann man sich täuschen.«
»Und wenn Sie sich täuschen, Kisi? So war doch Ihr Name, oder?«
Die Frau schwieg einen Moment, bevor sie wieder das Wort ergriff: »Ich habe oft und lange darüber nachgedacht, Natalija, glauben Sie mir. Ich bin auf der richtigen Seite. Wir sind auf der richtigen Seite.«
»Wer ist wir? «
»Ihre Leute nennen uns die Ungewaschenen. Wir werden ihnen zeigen, wie weit man es ohne Seife bringen kann.«
»Das haben Sie doch schon. Sie können das Eis eines Sees in die Luft sprengen. Sie können Eis in Bluteis verwandeln. Gratuliere. Hätte jeder Idiot mit genug Sprengstoff hinbekommen.«
»Warten Sie es ab, Natalija. Wir laufen uns erst warm. Ich gebe Ihnen heute meine erste Aufgabe: Denken Sie darüber nach, was die richtige und was die falsche Seite ist.«
»Wovon?«
»Von allem, Natalija. Von Geschäften. Von Menschen. Von Ihrem Leben. Von meinem Leben. Von unserem Leben. Von Land. Von Blut. Morgen höre ich mir an, was Sie dazu zu sagen haben. Wer weiß, vielleicht werden wir noch Freundinnen.«
Während sie sprach, zeigte sich keine Regung im Gesicht der schwarzen Frau. Sandra verstand das Freundschaftsangebot als Drohung.
Zu Recht.
Dienstag, 19. Februar, 8 Uhr 05
Zürich, Zentrale der Caisse Suisse
»Lex, ich glaube, ich bin in einem Film. Oder einem Alptraum. Das, was Sie mir erzählen, ist alles logisch. Aber ist es unsere Aufgabe, die Welt vor sich selbst zu retten?« Albert Sonndobler nahm die Statuette, den Banken-Oscar, wie ihn die Branche nannte, in die rechte Hand und ließ den Kopf der
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