Blutengel: Thriller
geht nur Folgendes: Er hat mitbekommen, dass er beobachtet wurde, verfolgt den Augenzeugen nach der Tat, und als der zur Polizei geht, folgt er ihm und bringt ihn um.«
»Sehr unwahrscheinlich. Der Zeuge ist ja nicht sofort zur Polizei gegangen, woher sollte der Täter dann wissen, wo der wohnt?«
»Trotzdem, er muss ihm gefährlich geworden sein«, sagte Hensen. »Wie kommt der Zeuge denn überhaupt in das Haus des ersten Opfers? Und woher kennst du den Mann auf dem Phantombild?«
»Ich habe dieses Gesicht schon mal gesehen. Irgendwo.«
»Also, wie kommt der Zeuge in den Hausflur von Tanja Binkel?«, fragte Hensen.
»Innach hat sich was dazuverdient, indem er morgens Prospekte ausgetragen hat.«
»Was ist mit der Signatur?«, fragte Hensen.
Mangold schob den Diabetrachter an das Bein.
»E. M.«
»Eure Majestät«, sagte Hensen.
»Tolle Idee.«
Mangold alarmierte telefonisch die Kollegen der Berliner Mordkommission. Anschließend sah er sich in der Wohnung um, während Hensen seinen Skizzenblock herauszog und den Toten zeichnete.
Innach war ein Ordnungsfanatiker gewesen, der seine wenigen nicht benötigten Habseligkeiten in Plastikfolien verpackt und dann in beschrifteten Kartons verstaut hatte. Es kam Mangold so vor, als hätte der Ingenieur mit seinem Ordnungssinn einen verzweifelten Kampf gegen seinen sozialen Abstieg und den Mief der Kellerwohnung geführt. Nirgendwo in der Wohnung fand sich Alkohol. Selbst das Geschirr hatte er auf seine Bedürfnisse abgezählt: zwei Messer, zwei Esslöffel, zwei kleine Löffel, zwei Gabeln, zwei Tassen.
Die Kochtöpfe schienen selten benutzt worden zu sein. Im Mülleimer entdeckte er die sauber gefalteten Verpackungen von Müsli-Riegeln, die allesamt zwei, drei Monate abgelaufen waren.
In einem Ordner fand Mangold sauber abgeheftete Bewerbungsschreiben. Bei seinem Bemühen, einen Job zu finden, war der Mann nicht eben wählerisch gewesen. Er hatte sich als Bürobote, Lagerarbeiter, Verkäufer in einem Supermarkt oder als Postzusteller für einen privaten Briefdienst beworben und einen großen Teil seines Geldes für Porto ausgegeben.
Mangold schätzte, dass es etwa 200 Bewerbungen allein in den letzten zwei Monaten gewesen sein mussten.
Er machte ein paar Fotos.
Etwa eine halbe Stunde später trafen die Berliner Kollegen ein und übernahmen den Tatort. Von dem blutjungen Berliner Kommissar ließen sie sich den Namen des Kollegen geben, der die Zeugenaussage von Innach aufgenommen hatte.
»Ich weiß aber nicht, ob der schon Feierabend hat«, meinte der Berliner Kollege.
»Dann schaffen Sie ihn wieder ins Präsidium. Ich will ihn dort in einer halben Stunde sprechen.«
»Aber …«
»Wir haben jetzt drei übel zugerichtete Leichen, da muss der Feierabend etwas warten. Drücke ich mich klar genug aus?«
Der Polizist grinste verkniffen, nickte und griff zum Handy.
An der Tür drehte sich Mangold noch einmal um.
»Ich brauche einen genauen Bericht, einen sehr genauen Bericht«, sagte er und stieg dann mit Hensen die Metalltreppe hinauf.
»Was für ein beschissenes Lebensende«, sagte Mangold.
Schweigend folgten sie den Navi-Anweisungen, die sie ins Berliner Präsidium leiteten. Auf dem Parkplatz bat Mangold Hensen, noch einen Augenblick zu warten.
»Was ist dein allererster Eindruck, so ganz ohne zu analysieren?«
»Er inszeniert wie fast alle kalkulierenden Serientäter. Andererseits rast er innerlich vor Wut. Er will sich durch nichts und niemanden aufhalten lassen, und es riecht alles nach einem genauen Plan.«
»Und?«
»Er ist schnell, verflucht schnell.«
4.
Kaja fühlte sich an ihre Studentinnenzeit erinnert. Wie in einem Lesesaal bereitete sich jeder auf die nächste Vorlesung vor. Tannen tippte auf der Tastatur seines Laptops, Weitz ging lustlos die Akten durch. Sienhaupt am anderen Ende des Büros gluckste vergnügt vor sich hin. Seine Schwester, Ellen Sienhaupt, war anscheinend wieder einmal auf Einkaufstour. Sie machte keinen Hehl daraus, wie sehr ihr das Stadtleben gefiel.
Sienhaupt lachte über das ganze Gesicht, beugte sich über die Tastatur seines Computers und gab in einem trommelnden Rhythmus mit zwei Fingern etwas ein. Kaja sah zu ihm hinüber.
Er war zweifellos der Seltsamste in dieser ohnehin seltsamen Truppe. Auch wenn die Neurobiologen in den letzten Jahren immer mehr über das Innenleben von Autisten herausgefunden hatten, niemand von »außen« konnte ihre Denkvorgänge wirklich verstehen. Diese Abgeschlossenheit und die
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