Bluterde
Anstrengung zu reduzieren, griff sie nach dem Treppengeländer. Was war das? Ihre Hand zuckte blitzschnell zurück. Etwas auf der Unterseite des Metalls hatte sich weich und glitschig angefühlt. Eine Welle des Ekels durchflutete Lea. Sie mochte sich gar nicht vorstellen, was ihre Finger da ertastet hatten. Hektisch griff sie mit der sauberen Hand in ihre Umhängetasche und zog ein Desinfektionstuch heraus. Sie rieb damit ihre Handinnenfläche ab, bis sie rot war und brannte. Angewidert ließ Lea das Tuch auf den Boden fallen und machte sich weiter auf den Weg in den zweiten Stock. Das Bourbon Café leuchtete ihr schon aus der Ferne entgegen – ein Coffee-Shop in grellem Orange. Sie musterte die Gäste. Es waren nur zwei Weiße darunter, einer von ihnen musste Wolodja sein. Lea ging auf den Mann mit dem spärlichen Haarwuchs zu, der gelangweilt an einem der Plastiktische saß. Er hob seinen Kopf und taxierte sie. Er muss um die fünfzig sein, schätzte Lea. Seine Wangen hatten bereits der Schwerkraft nachgegeben, um Nase und Augenwinkel zeichneten sich tiefe Furchen ab.
»Entschuldigung, sind Sie Wolodja?«
Er nickte, stand auf und warf seinen Pappbecher in den überfüllten Mülleimer.
»Komm mit«, war alles, was er in zungenschwerem Englisch von sich gab.
»Ich würde mir gerne noch eine Flasche Wasser kaufen.«
Wieder nur ein Nicken. Lea nahm ihren schweren Rucksack ab und stellte ihn auf einen der Stühle.
»Ich lasse den kurz hier bei Ihnen, okay?«
Ohne eine Antwort abzuwarten, ging Lea zum Verkaufstresen und orderte eine Flasche Wasser. Als sie ihr Portemonnaie öffnete, fiel ihr ein, dass sie vergessen hatte, Geld zu wechseln.
Sie drehte sich zu Wolodja um.
Aber weder ihr Rucksack noch der russische Pilot waren zu sehen.
Leas Beine wurden weich wie Gummi.
Ihr halbes Leben war in diesem Rucksack.
Rückflugticket, Pass, Reiseapotheke, Fotoapparat, Klamotten.
Sie konnte sich nicht entscheiden, ob sie schreien oder weinen sollte, als plötzlich Wolodja rechts in ihrem Gesichtsfeld auftauchte. Er nahm die Wasserflasche und warf achtlos ein paar Münzen auf den Tresen.
»Komm, wir sind eilig!«
Er hielt ihr die Flasche hin und ging mit großen Schritten voraus. Ihren Rucksack hatte er sich über die rechte Schulter geworfen. Mit schlechtem Gewissen, aber erleichtert schlich Lea hinter ihm her in die Abflughalle, von der aus ihre Reise in den Kongo weitergehen sollte. Die Ausreiseformalitäten waren dank des Russen in wenigen Minuten erledigt und der Pilot strebte einem Ausgang am hinteren Ende der Halle zu. Kleinere Flugzeuge, ein- oder zweimotorige Maschinen, standen kreuz und quer auf dem Rollfeld und warteten auf ihre Piloten. In einem dieser Dinger werde ich gleich sitzen, dachte sie angespannt. Sie musterte die altersschwachen Kisten. Die Maschinen hatten ihre besten Jahre eindeutig hinter sich. Wolodja ging auf ein zweimotoriges Flugzeug zu, das einer gestauchten Zigarre ähnelte. Die unförmige Maschine hatte einen undefinierbaren Farbton zwischen Grau und Beige und Lea fiel auf, dass die Tragflächen oben saßen. Während ihr Pilot alles startklar machte, sah sie sich um. Das Flughafengebäude mit seinen Betonrippen sah im Licht der tief stehenden Sonne wie ein Raumschiff aus. Hinter einem Zaun befanden sich mehrere flache Gebäude. Ein Wirrwarr an Beschriftungen überzog die Wände. Ein sehr roter Schriftzug stach ihr ins Auge, aber die Buchstaben waren aus der Entfernung schwer zu entziffern. Aumex? Avmex? Avomex? In ihrem Hinterkopf klingelte etwas. Lea versuchte sich zu erinnern, woher sie den Namen kannte, aber sie war zu müde und zu nervös. Wolodja gab ihr ein Zeichen, dass es Zeit zum Einsteigen war.
»Willst du vorne oder hinten?«
»Vorne heißt …?«
»Bei mir.«
»Okay.«
Lea kletterte über eine Leiter in das Cockpit. Sie beäugte das Innenleben der Kabine misstrauisch. Die Verkleidung und der braune Teppich hatten schon bessere Zeiten gesehen. Das Armaturenbrett vor ihr war voller Instrumente, Kontrolllampen und … Löcher. Kreisrund, ausgestanzt und dann vergessen, die entsprechenden Instrumente einzubauen. Wenn Lea sich etwas nach vorne beugte, konnte sie dahinter Kabelstränge, Drähte und Schläuche verlaufen sehen.
»Wolodja?«
»Was?«
»Fehlen hier Instrumente?«, sie deutete auf die Löcher.
Er schüttelte den Kopf.
»Ist alte Maschine, aber gut.«
Es fiel ihr schwer zu glauben, dass diese Aussparungen produktionsbedingt und so gewollt waren.
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