Bluternte: Thriller
hinterlassen.
Ihr Bein schrie sie gellend an, und ihre Wirbelsäule fühlte sich an, als wäre sie stundenlang rückwärts über einen Felsblock gebogen worden. Sie brauchte ihre Schmerzmittel, sie brauchte etwas zu essen, und sie musste sich ausruhen. Sie ließ den Motor an.
Als sie kurz darauf vor Gillians Haus anhielt, versuchte sie es noch einmal mit seiner Nummer. Keine Antwort. Sie war auf sich allein gestellt.
75
»Ich ziehe den Hut vor Burke und Hare«, murmelte Harry vor sich hin, während er das Brecheisen unter den Steindeckel schob und sich dann mit seinem ganzen Gewicht darauflehnte. Die schwere Platte verrutschte um den Bruchteil eines Zentimeters. Mit dem Geschick, das er sich im Laufe von fast einer Stunde angeeignet hatte, schob er den Deckel gerade weit genug zur Seite, dass er mit der Taschenlampe in den Sarg leuchten konnte.
Nichts. Genau das hatte er auch in den acht Steinsärgen gefunden, die er hatte öffnen können. Keine Gebeine, kein mumifiziertes menschliches Gewebe, keine verschrumpelten Grabgewänder und definitiv keinen Joe. Wahrscheinlich würde er nie erfahren, wann die sterblichen Überreste jener längst verblichenen Gottesmänner aus der Krypta der St.-Barnabas-Kirche fortgeschafft worden waren, aber fort waren sie.
Seine Nervosität hatte sich schon lange gelegt. Gegen das große Gruseln half wirklich nichts so gut, wie ins Schwitzen zu geraten.
Nur ein Alkoven blieb ein Mysterium. Der allerletzte, der der Rückseite der Krypta am nächsten lag. Keiner der Schlüssel aus seiner Schreibtischschublade hatte das Eisengitter aufgesperrt. Als die Polizei den Alkoven damals durchsucht hatte, hatten die Männer bestimmt einen von Sinclairs Schlüsseln gehabt. Harry hatte rhythmisch gegen das Gitter geklopft, hatte eine Rohrzange durch die Stäbe geschoben und damit gegen die beiden Sarkophage gehämmert, die er erreichen konnte. Er hatte Joes Namen gerufen und dann mindestens zehn Minuten lang still gelauscht. Zu guter Letzt war er gezwungen gewesen aufzugeben. Joe war nicht in der Kirche. Nicht in der Kirche und nicht unter der Kirche.
Wenigstens wusste er das jetzt.
Harry schritt durch den ersten Raum der Krypta und fand mit dem Taschenlampenstrahl die Tür, die zu dem zweiten führte. Jetzt befand er sich unter seiner eigenen Kirche, und selbst kurz vor Mitternacht drang ein wenig Licht von der Straße hier herein.
Er ging weiter. Beeindruckt von seinem eigenen Wagemut schaltete er die Taschenlampe aus. Nach und nach tauchten undeutliche Umrisse aus der Finsternis auf. Das Licht der Straßenlaternen fiel durch die Kirchenfenster, und ein Bruchteil dieses Lichts sickerte in den Keller durch.
Wie kam das?
Rasch ging er dorthin, wo das Licht am stärksten zu sein schien. Ja, definitiv ein viereckiger Lichtstrahl. Er schaute zur Decke hinauf. Direkt über seinem Kopf war eine Art Gitterrost. Harry hob die Arme und zerrte daran. Der Rost rührte sich nicht. Er versuchte es mit Drücken, und das Gitter schoss empor.
Als er es zur Seite schob, hörte er es über den Steinboden scharren; dann packte er den Rand des Loches, das er gerade geschaffen hatte. Seine Finger schlossen sich um die Ränder der Steinplatten, die den Boden des Altarraumes bedeckten. Mal sehen, wie kräftig seine Armmuskeln waren.
Kräftig genug. Ein gewaltiger Klimmzug, und er war oben und blickte sich um. Er befand sich direkt hinter der Orgel, in jener engen, staubigen Lücke, die man oft hinter alten Instrumenten findet. Durch die Ritzen zwischen den Orgelpfeifen konnte er die Kanzel sehen, gerade mal einen Meter entfernt.
Töten hat seine Zeit.
»Hier hast du also gesteckt«, brummte Harry. »Unsere kleine Freundin mit den Stimmen.« Er hangelte sich wieder hinunter, schob das Gitter an seinen Platz zurück und verließ die Krypta. Ebba, die seltsame Freundin der Fletcher-Kinder, kannte sich in dieser Kirche eindeutig gut aus. Wahrscheinlich war sie es auch gewesen, die ihn damals so herumgescheucht hatte, an dem Tag, als er hier angekommen war.
Harry schloss die Krypta ab, dann sah er nach, ob die Haupttore der Kirche abgeschlossen und verriegelt waren. Er ging zu der Toilette ganz hinten im Kirchengebäude und betrat dann das Hauptschiff. Dank Jenny Pickups Einsatz hatten er und die Fletchers vor ein paar Stunden gegessen. Und er hatte sich eine Decke aus seinem Wagen mitgebracht, den er einen knappen Kilometer weiter unten am Hügel in einer stillen Sackgasse abgestellt hatte. Er war gut
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