Bluternte: Thriller
noch am Leben war? Nein, er durfte einfach nicht anfangen, so zu denken.
Alice und Millie waren direkt vor ihm aufgetaucht. Jenny Pickup hielt sich dicht an ihrer Seite.
»Wie halten Sie sich, Alice?«, fragte Sinclair mit einer Stimme, deren Sanftheit Harry überraschte. Alice schaute zu dem hochgewachsenen Mann auf, als hätte er in einer fremden Sprache mit ihr geredet.
»Hat jemand Gareth und Tom gesehen?«, fragte sie.
»Vor ungefähr einer halben Stunde waren sie auf der Lower Bank Road«, antwortete Gillian und trat näher. »Sie sind mit mir und ein paar anderen weiter zu den alten Eisenbahngleisen. Wir wollten im Collingway-Tunnel nachsehen.«
»Aber sie sind bestimmt zurückgekommen, als der Hubschrauber zu suchen angefangen hat«, bemerkte Tobias. »Alice, ich wünschte, Sie würden mit zu uns kommen und sich ausruhen. Es ist doch viel zu kalt hier draußen für die Kleine.«
»Ja, wirklich, Alice«, drängte Jenny und trat einen Schritt näher an ihren Großvater heran. »Oder lassen Sie doch wenigstens Millie dort. Dads Haushälterin wird auf sie aufpassen. Sie können sie doch nicht den ganzen Tag auf dem Rücken herumschleppen.«
Alices Blick trieb ziellos davon. »Vielen Dank«, sagte sie zu dem Laternenpfahl neben ihr. »Ich muss sie bei mir haben. Jetzt muss ich Gareth suchen.«
Sie wandte sich ab. Immer mehr Menschen kamen jetzt aus der Kirche. Die Suche ging weiter.
»Es tut mir leid, ich fürchte, mehr können wir nicht tun.«
Evi nickte und fragte sich insgeheim, woher sie die Kraft nehmen sollte, von ihrem Stuhl aufzustehen. »Ich weiß«, gestand sie.
Eine Stunde, nachdem John Warrington sich bereit erklärt hatte, ihr bei der Suche nach der mysteriösen Ebba zu helfen, waren sie gezwungen gewesen aufzugeben. Sie hatten die Patientenakten auf jede nur erdenkliche Weise durchforstet. Nur die Akten der letzten dreißig Jahre lagen als Computerdatei vor, aber Warrington war in den Keller gegangen und hatte etliche Kartons mit alten Unterlagen gefunden. Sie waren vierzig Jahre zurückgegangen, in dem Wissen, dass so gut wie keine Chance bestand, dass Ebba noch älter war. Doch obwohl sie auf mehrere Patienten gestoßen waren, die an dieser Erkrankung litten, waren die alle gestorben. In vierunddreißig Jahren war kein Patient mit angeborener Hypothyreose registriert worden, nicht einmal jemand mit einem Kropf. Sie hatten sich das Hirn nach ähnlichen Krankheitsbildern zermartert und mehrere andere Suchdurchläufe unternommen. Schließlich hatten sie sich geschlagen geben müssen.
»Wie sicher sind Sie, dass sie hier in der Gegend wohnt?«, fragte Warrington.
»Sie muss hier wohnen«, erwiderte Evi. »Jemand mit dieser Krankheit könnte doch nicht Auto fahren.«
»Sollte man nicht denken, nein«, stimmte er zu.
»Wie kann jemand so vollständig durchs Raster fallen?« Evi zitterte fast vor hilflosem Zorn. »Wieso wurde sie nicht als Säugling diagnostiziert? Wieso wurde sie nicht behandelt? Und wieso wissen die für den Bezirk zuständigen Ärzte nichts von ihr, bei ihrem Krankheitsbild?«
Warrington antwortete nicht, und Evi stemmte sich hoch. »Ich habe Ihre Zeit lange genug in Anspruch genommen«, sagte sie. »Es tut mir leid, dass Sie Ihr Spiel versäumt haben.«
»Ich rufe unsere Sprechstundenhilfe zu Hause an«, erbot sich der Arzt. »Und noch ein paar andere Mitarbeiter, die inzwischen in Rente sind. Vielleicht erinnern die sich an etwas, vielleicht fällt ihnen etwas ein. Wenn sich etwas ergibt, sage ich Ihnen Bescheid.«
»Ich hab’ schreckliche Angst, Harry«, sagte Alice. Sie waren bis zur Ecke des Friedhofs gekommen, dann war Alice gestrauchelt. Er hatte sie festhalten müssen, damit sie und Millie nicht hinfielen.
»Sie halten sich unglaublich gut«, beteuerte er, legte den Arm um ihre Schultern und lotste sie zur Mauer. Ihr Atem ging zu schnell. »Sie sind gefasst, Sie funktionieren, und Sie kümmern sich um Ihre beiden anderen Kinder«, fuhr er fort. »Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie viel Kraft das kosten muss.«
»Das ist das schlimmste Gefühl der Welt«, stammelte Alice. »Nicht zu wissen, wo das eigene Kind ist. Man wird verrückt dabei. Niemand kann das aushalten.«
»Sie nicht«, entgegnete Harry, obwohl er sich in Wahrheit nicht sicher war. Es gefiel ihm ganz und gar nicht, dass Alice anscheinend nicht in der Lage war, sich auf irgendetwas zu konzentrieren. »Ich sage Ihnen, wie das ist«, fuhr sie fort und beugte sich so dicht zu ihm, dass ihm
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