Blutfrost: Thriller (German Edition)
Der Krankenhausarzt, zwei Schwestern und meine Mutter standen bloß um mich herum und sahen auf einen Bildschirm, den ich selbst vor lauter Köpfen nicht sehen konnte.
»Das sind gute Neuigkeiten, Mrs. Levine«, sagte der Arzt schließlich. »Es gibt keinen Grund für die Annahme, dass mit dem Herzen Ihrer Tochter irgendetwas nicht stimmt. Es ist alles im Normalbereich.« Der Arzt deutete mit einem Finger auf die Zickzacklinie desKardiogramms, die meine Mutter längst auswendig kannte. Sofort begannen ihre hektischen Bewegungen. Sie zitterte, ihr Kopf zuckte von rechts nach links und zurück und sie stampfte auf dem Boden auf. Und dann kam es, tief aus ihrem Inneren, wie glühende, todbringende Lava. »WAS? Ja, haben Sie denn ihre Krankenakte nicht gelesen? Und den Brief des Spezialisten scheinen Sie auch nicht zu kennen, oder? Er hat sich ausführlich über ihr galoppierendes Herz geäußert. Darüber, wie sich der Herzrhythmus den äußeren Umständen anpasst. Also ob sie liegt oder steht. Dass sie gleich außer Atem ist, wenn sie sich nur minimal anstrengt. Wir sind hierhergekommen, um Hilfe für ein sehr krankes Kind zu bekommen, und Sie sagen mir, dass diesem Kind nichts fehlt und ich mir das alles nur … einbilde?«
»Nein, nein, Mrs. Levine …«
An dem Tag, an dem Mutter mich zum ersten Mal zu der neuen Kinderärztin Dr. Shirley mitnahm, versuchte sie mich immer wieder zu trösten. Sie wirkte beinahe elektrisiert, wie wenn sie eines ihrer Versandkatalog-Päckchen bekommen hatte. Ich hatte eigentlich bloß Hunger. Hatte den ganzen Tag nichts gegessen, weil ich zu spät aufgestanden war, um von den gezuckerten Cornflakes zu bekommen, nach denen sich mein Mund immer wie ein zusammengefallener Donut anfühlte. Mutter hatte diese Flakes kistenweise ins Auto geladen, weil sie im Angebot waren, weshalb auch schon unser Abendessen daraus bestanden hatte. Ein Pausenbrot hatte ich auch nicht mit in der Schule gehabt und Geld sowieso nicht, solange Mutter noch auf den Scheck wartete. Als ich von der Schule nach Hause kam, jammerte ich laut vor Hunger und bettelte um ein paar Cornflakes. Stattdessen packten mich Mutters Schaufelbaggerarme und verfrachteten mich zu Dr. Shirley, denn die war ihr gerade erst empfohlen worden.
»Meine Tochter hat in den letzten Tagen schrecklich unter Verdauungsbeschwerdengelitten. Ich habe nie in meinem Leben so laute ›Bäuerchen‹ von einem kleinen Kind gehört, und sie hat Bauchweh. Außerdem reagiert sie schrecklich heftig auf Fleisch, sie muss sich dann immer gleich übergeben.« Typisch Mutter, so etwas zu sagen. Ich konnte mich schon gar nicht mehr daran erinnern, wann wir zuletzt Fleisch gegessen hatten, aber mir war das nur recht, denn es schmeckte immer schrecklich.
»Und außerdem ist da die Sache mit ihrem Herzen. Das ist völlig außer Rand und Band. Dieses Mädchen hat immer irgendetwas, aber diese Provinzärzte können uns nicht helfen, die wissen nicht weiter. Deshalb hoffe ich jetzt auf Sie. Ich will dieser Sache so gerne auf den Grund gehen.«
Dr. Shirley, eine kleine, blasse Frau mit spitzer Nase und einem lippenlosen Mund, hörte mich kurz ab. Sie sagte »hmmm« und hörte mich noch einmal ab. Sie nahm sich viel Zeit und kontrollierte mein Herz, nachdem ich aufgestanden war, und dann noch einmal, nachdem ich ein paar Schritte gelaufen war. Ich habe meine Mutter selten so begeistert gesehen wie in dem Moment, als Dr. Shirley schließlich sagte:
»Der Unterschied des Herzrhythmus ist sehr groß, abhängig davon, ob Ihre Tochter sitzt, steht oder in Bewegung ist.« Meine Mutter nickte sehr eifrig.
»Und sie scheint nicht richtig Luft zu bekommen, wenn sie aufsteht. Wie fühlt sich das an?«
»Erzähl Dr. Shirley, wie schnell du immer außer Atem bist«, sagte Mutter und machte ihren Mund weit auf. »Das Ganze hängt doch zusammen.«
Ich wurde zur Herzuntersuchung ins Krankenhaus eingewiesen, und Mutter war außer sich vor Spannung.
»Ich habe Hunger«, sagte ich, als wir draußen vor der Praxis auf dem Bürgersteig standen und mein Magen so laut knurrte, dass sich ein Passant umdrehte und mich verwundert ansah. Es warinzwischen bald fünf Uhr nachmittags, und ich hatte den ganzen Tag noch nichts gegessen.
»Das geht jetzt noch nicht. In anderthalb Stunden sind wir zu Hause.« Anderthalb Stunden hatten wir also fahren müssen, um eine Ärztin zu finden, die mich nicht als völlig gesund und normal wieder nach Hause schickte. Das blieb nicht unsere längste
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