Blutfrost: Thriller (German Edition)
Stacheldraht verschanzt. Und irgendwann war es dann vielleicht unmöglich, das zu bekommen, was man sich so brennend wünschte.
Wunschdenken. Was war Wunschdenken? Was meinte sie? Dass etwas, was sie sich brennend wünschte, doch nicht möglich war? Eine Besessenheit?
Ich war alt genug, um die Natur der Besessenheit zu kennen. War man besessen, war nur noch der gewünschte Teil der Wirklichkeit, der gewünschte Teil der Welt sichtbar. Ich dachte unwillkürlich an meine erste Besessenheit, meinen ersten Freund, damals im letzten Jahrhundert. Ich liebte ihn über alles auf dieser Welt. So fühlte es sich jedenfalls an. Er war in einer Jugendbande, war kriminell und hatte gerade erst eine Haftstrafe abgesessen, nachdem er mit einer Axt eine Bank überfallen hatte. All das sah ich nicht. Ich spürte nur das Gefühl in meinem Körper, wenn er mich küsste. Und Emily? Sie war eine kleine Mörderin, die bereits zwei Menschen auf dem Gewissen hatte. Trotzdem sah ich nur das kleine Mädchen, das mich brauchte; das kleine Mädchen, das ich brauchte.
Wenn ich an die Natur der Besessenheit dachte, kam mir Doktor Glas zu Hilfe. Gemeinsam verstanden wir ihre Taten, gemeinsam billigten wir, was sie getan hatte. Ich schloss die Augen, konzentrierte mich auf das wirbelnde Wasser über dem Abfluss der Badewanne und schlief schließlich ein.
34
In Kennedy mietete ich einen blauen Ford Focus und fand mit Hilfe des dazugehörigen Navis und einer merkwürdig müden Euphorie, durch die ich mich erstaunlich leicht fühlte, aus der Stadt. Ich hatte Dänemark im Morgengrauen verlassen, doch hier war es noch immer Morgen. Sie würde nichts Dummes anstellen, sie wusste, dass ich kam. Aber ich musste mich beeilen, bevor sie ihre Meinung änderte.
Aus der Vergangenheit bekannte Landschaften rauschten vorbei, und irgendwann sah ich zu meiner Verblüffung einen Ausschnitt meines eigenen, lächelnden Gesichts im Rückspiegel. Dies war der Beginn eines dieser außergewöhnlich warmen Novembertage, die hier so typisch waren, bevor die Landschaft von den eiskalten Winden des Winters geprügelt wurde und sich der Schnee meterhoch bis März auf alle Felder legte.
Ich fuhr mit offenem Fenster und genoss den Dieselgeruch all der alten Autos auf dem Highway. Als ich mich ein paar Stunden später in vertrautem Gelände befand, in der Prärie des Staates New York, roch ich den harschen Geruch von Erde und verrottenden Blättern. Ich achtete nicht auf die Kilometeranzeige, hatte aber mitbekommen, dass das GPS mir bis Rexville vierhundert Kilometer angezeigt hatte, als ich am Flughafen losgefahren war. Die Strecke hatte sich aber nie lang angefühlt, sondern nur wie ein Traum. Irgendwann hielt ich mitten in der offenen Landschaft vor einem Diner, um einen Kaffee zu trinken, doch statt auszusteigen, schlief ich ein. Ich träumte etwas, an das ich mich nicht erinnere, ich wusste nur noch, dass ich glücklich und zufrieden war. Ich wachte erst wieder auf, als ich das Lachen zweier Männer hörte, die neben einem Picknicktisch in einen Graben pinkelten und mich unerklärlich breitanlächelten. Sie trugen beige Overalls mit großen Ölflecken, und als der Erste fertig war, kam er zu mir und steckte seinen rot schimmernden Kopf durch mein offenes Fenster: »Das ist das Tolle an der Natur«, sagte er. »Immer ein Klo zur Stelle, wenn man eines braucht.« Ich starrte den fremden Mann verschlafen an, der einen Finger in die Luft reckte.
»Unwetter im Anmarsch!«, sagte er schelmisch. »Sie sollten lieber das Fenster zumachen, little lady .« Durch die Windschutzscheibe sah ich große, bedrohlich dunkle Wolken über den Himmel ziehen. Als ich eingeschlafen war, hatte noch die Sonne über einem wolkenlosen Himmel geschienen. Ich sah auf die Uhr. Vier Stunden. Ich hatte vier Stunden in meinem Auto gesessen und geschlafen. Plötzlich hatte ich keine Zeit mehr für einen Kaffee, plötzlich hatte ich überhaupt keine Zeit mehr. Ich packte das Lenkrad, ließ den Motor an und fuhr los.
Als ich das Schild mit dem Hinweis passierte, dass es bis Rexville nur noch sieben Meilen waren, türmten sich die Wolken über mir zusammen, trennten sich wieder und rasten weiter über den immer dunkler werdenden Himmel. Irgendwie raubten sie mir die Luft zum Atmen, und aus der still rieselnden Unsicherheit wurde Angst. Die Gerüche von damals drängten sich auf. Ich rollte über die menschenleere Hauptstraße und fand schließlich Witty’s, den einzigen Supermarkt der Stadt, wo ich
Weitere Kostenlose Bücher