Blutgeld
einer autorisierten Nummer kam. Aber die Unterbrechung ereignete sich nicht. Offensichtlich gab es kein automatisches Rückrufverfahren. Vielleicht waren die Schweizer wirklich so schlampig, wie Helen behauptet hatte. Jetzt kam die letzte Hürde. Auf dem Bildschirm erschien das Zeichen «Enter password», Lina gab
secret
ein, das Wort, das nach ihren Schlussfolgerungen Marchands Passwort sein musste. Der Bildschirm löste sich auf und baute sich wieder auf, zeigte das Logo der OBS und dann ein kurzes Optionsmenü.
Ja!
Die Bank hatte sein Passwort noch nicht geändert. Sie war drinnen.
Das Menü auf dem Bildschirm bot ihr vier Optionen an: «Banking», «Trading», «Markets» und «Personnel». Lina wählte die erste Option. Der Bildschirm baute sich auf mit einer neuen Aufforderung, ob sie Informationen über Einzelhandelsgeschäfte, Geschäftskonten, Handel und Verkehr oder Privatgeschäfte wünsche. Lina wählte den letzten Eintrag. Eine letzte Aufforderung fragte Lina, ob sie Informationen über reguläre oder Nummernkonten wünsche –
r
oder
n
–, und Lina gab
n
ein.
Ein neues Aufforderungszeichen funkelte sie an. «Enter account number», «Kontonummer eingeben». Sie war beinahe am Ziel. Lina lehnte sich in ihrem Korbstuhl zurück und sah aus dem Fenster ihres kleinen Zimmers. Ein paar Passanten gingen über die Straße, jeder mit seinen eigenen Problemen beschäftigt. Die Banker waren in ihren Zählhäusern. Das Geld lag in den Tresorräumen und schlief. Der Kuckuck wartete gehorsam hinter der Tür seiner Kuckucksuhr. Lina war das einzige freie Elektron in dem geordneten Universum Genfs. Sie wandte sich wieder ihrem Computer zu, der so geschickt war, und sah wieder auf ihre Liste mit den Kontonummern. Neben das Aufforderungszeichen tippte sie die erste der beiden Kontonummern in Nassau. «N4 808.537-0.»
Der OBS -Computer verdaute ihre Anfrage, und der Bildschirm war einen Augenblick leer. Lina fragte sich, ob sie vielleicht einen besonderen Sicherheitsschirm getroffen hatte, der den Zugang zu vertraulichen Konten einschränkte. Aber bald baute sich das Bild wieder auf und bot Lina zwei Optionen an, «Status» und «Kontostand». Sie wählte Letzteres mit einem Gefühl erregter Erwartung. Sie fragte sich, ob die nächste Zahl, die auf dem Bildschirm erscheinen würde, hundert Millionen oder Milliarden sein würde. Sie war vollkommen unvorbereitet auf das, was dann tatsächlich vor ihr erschien: ‹Kontostand – N4 808.537-0: SF 10,000›.
Das kann nicht stimmen, dachte Lina. Das waren kaum mehr als fünftausend Dollar. Wahrscheinlich der Mindestkontostand, der erforderlich war, um so ein Konto offen zu halten. Sie musste einen Fehler gemacht haben, obwohl sie sich nicht vorstellen konnte, was es hätte sein können. Sie verglich noch einmal die Kontonummer mit der auf dem Ausdruck, um sicherzugehen, dass es die richtige war, und ging ihre Schritte noch einmal durch. Ruhig Blut, ermahnte sie sich. Probier die nächste. Sie verfuhr mit der zweiten Nassauer Kontonummer genauso wie mit der ersten, gab diesmal nach dem Aufforderungszeichen «N4 808.537-1» ein. Die Antwort funkelte ihr entgegen.
‹Kontostand – N4 808.537-1: SF 10,000.›
Lina schüttelte den Kopf. Das war eigenartig. Sie probierte das dritte Konto, auf ein anderes Ergebnis hoffend. Es war das erste von den dreien, die von den in Panama registrierten Strohfirmen eröffnet worden waren. Vielleicht war das gesamte Geld auf die Konten in Panama verlegt worden. Sie gab die Zahlen langsam mit einem Finger ein, um sicherzugehen, dass ihr kein Fehler unterlief. B2 218.411-0. Diesmal würde ihr doch bestimmt eine Millionensumme entgegenstrahlen. Aber der Bildschirm zeigte den gleichen Betrag:
‹Kontostand – B2 218.411-0: SF 10,000.›
Noch ein leeres Sparschwein. Lina wiederholte die Übung noch zweimal. Die Nummernkonten, in die Coyote Investment seine Profite geschüttet hatte, enthielten jetzt alle nur armselige zehntausend Schweizer Franken. Praktisch gesehen waren sie leer. Der riesige Notgroschen des Herrschers, versteckt, um seine Familie langfristig zu unterstützen, war verschwunden.
Lina rieb sich die Augen. Einen kurzen Moment war ihr zum Weinen zumute. Sie hatte sich so viel Mühe gegeben, hatte so viel riskiert, diese Tür zu öffnen. Und jetzt musste sie feststellen, dass nichts dahinter war.
Es gab in Genf nur noch eine andere Tür, an der sie anklopfen konnte, aber Lina wusste nicht, wie. Sie legte sich aufs
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