Blutgeld
Bett in ihrem kleinen Zimmer und ließ sich das Problem durch den Kopf gehen. Nach einigen Minuten des Nachdenkens rief sie den Concierge vom Beau Rivage an, der sich am Tag zuvor sehr hilfsbereit gezeigt hatte. Es tue ihr furchtbar leid, ihn zu stören, sagte sie, aber sie habe die Telefonnummer ihrer Privatbank, Crédit Mercier, verloren. Ob er sie zufällig kenne? Und natürlich kannte er sie. Lina wählte die Nummer, die der Concierge ihr gegeben hatte, und lauschte auf das Klingeln. Die Chance, Mercier zu erreichen, war gering, aber ihr blieben wenig Alternativen. Als sich eine Schweizerin meldete, fragte Lina, ob sie Monsieur Maurice Mercier sprechen könne.
«Wen kann ich melden?» Die Stimme der Frau war steif und scharf wie der Stachel eines Stachelschweins.
«Salwa Bazzaz», sagte Lina, indem sie den Familiennamen des Herrschers als ihren eigenen angab.
Die Sekretärin bat sie dranzubleiben, und es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis sie sich wieder meldete. «Monsieur Mercier würde gerne wissen, weswegen Sie anrufen.»
«Ich möchte Erkundigungen über die Konten meines Onkels einholen», sagte Lina so hoheitsvoll, wie sie nur konnte. «Ich bin gerade in Genf eingetroffen und möchte Monsieur Mercier so bald wie möglich sprechen.»
Es gab wieder eine lange Pause, während die Sekretärin ihren Chef informierte. Ein Schweizer Bankier musste vorsichtig sein. Und doch konnte man gelegentlich auch zu vorsichtig sein und einen potenziellen Kunden beleidigen. Die Sekretärin meldete sich wieder, jetzt in einem etwas freundlicheren Ton, strahlte etwas mehr Wärme aus, die sie den Milliarden von Dollar schuldig war, die sich dank der Herrscherfamilie im Verlauf der Jahre bei der Firma Crédit Mercier angesammelt hatten.
«Monsieur Mercier kann Sie morgen um zehn empfangen», sagte sie.
Lina feierte ihren Erfolg, indem sie am frühen Nachmittag einen Spaziergang machte. Es war gefährlich, ihren Unterschlupf zu verlassen, aber es war ein sonniger Frühlingstag, und sie hasste das Gefühl, von ihrer Angst eingesperrt zu sein. In einem Laden, der sich in der Nähe des Bahnhofs befand und geöffnet hatte, kaufte sie sich einen Hut, dem jeglicher Schick fehlte, und einen grünen Mantel. Als sie sich im Spiegel betrachtete, fand sie, dass sie beinahe wie eine Schweizerin aussah. Sie setzte ihren Spaziergang fort, blieb wann immer möglich im Schatten, den Kopf gesenkt, aber sie wurde wie durch einen Magnet zum Genfer See gezogen.
Vom Südende aus sah der See wie ein langes wässriges Juwel aus, das in den tiefen Spalten der Alpen eingelegt war. Die Frühlingssonne spiegelte sich glitzernd auf der Oberfläche des Wassers wider, während darüber das Wasserspiel seine neblige Fontäne ausspie. Dies war genau der Stadtteil, den sie meiden musste, aber der Jardin Anglais am Südufer des Sees war so voller Menschen, die zu einem Nachmittagsspaziergang unterwegs waren, und sie dachte, sie wäre unsichtbar unter all den Passanten am Kai.
Lina blieb stehen, um zuzusehen, wie ein Schwarm kleiner Segelboote mit möwenweißen Segeln über das Wasser schoss. Der Wind wurde stärker, und eins der Boote, das vor dem Wind segelte, schien sich fast aus dem Wasser zu heben, sodass es wie auf Schlittschuhen über die Oberfläche des Sees direkt auf sie zuraste. Als der Wind drehte, machte das Boot eine scharfe Wende und glitt auf die Mont-Blanc-Brücke zu. Erst dann, als Linas Blick zur Brücke wanderte, sah sie eine Gestalt, die in der Nähe der Steinfassade stand, die Hände in die Manteltaschen gesteckt. Was Lina Angst machte, war, dass der Mann sie direkt ansah.
Sie setzte sich in nördliche Richtung in Bewegung, von der Brücke weg. Nach hundert Metern blieb sie bei einem kleinen Park stehen, der am See lag, fand eine Bank und blickte sich um. Der Mann in dem Mantel hielt sich immer noch hinter ihr. Sein Verhalten hatte eine Dreistigkeit, die sie zermürbend fand. Er war jetzt näher gekommen, und sie erkannte das gewellte Haar, die scharfen Züge und diesen maskulinen Gang. Es war derselbe Mann, der sie in der Lobby des Beau Rivage angesprochen und behauptet hatte, ein Freund von Sam Hoffman zu sein. Er hatte ihr eine Visitenkarte mit seinem Namen gegeben, Martin Hilton, und der Mitteilung «Seien Sie vorsichtig». Und jetzt verfolgte er sie auch noch.
Nur keine Panik und bloß nicht wegrennen, dachte Lina. Erteil ihm eine Lektion. Sie sah einen Polizisten, der etwa dreißig Meter entfernt in einem Wachhäuschen am
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