Blutgeld
geworden war.
«Wie fühlen Sie sich?», fragte er. «Verheilen die Wunden gut?»
«Ja», sagte sie.
«Gestern warst du dran, verhört zu werden. Heute haben wir beschlossen, dass du zugucken kannst, wie jemand anders verhört wird. Ist das nicht um Klassen besser?»
Sie antwortete nicht. Sie sah ihn verständnislos an. Was meinte er?
«Aber vielleicht gefällt dir das Zugucken auch gar nicht. Vielleicht denkst du, dass du lieber die Rollen tauschen möchtest, dass
du
es bist, die unsere Fragen beantwortet. Ja. Das können wir machen. Aber nur wenn du die Wahrheit sagst. Sonst machen wir beides mit dir.»
Sie verstand immer noch nicht, aber sie wagte es nicht nachzufragen. Im nächsten Moment verband Kamal ihr die Augen und führte sie den Gang hinunter. Sie bogen mehrmals um die Ecke, einen Gang hinunter und dann den nächsten. Bis sie zu einem Raum kamen, wo Lina die Laute anderer Menschen hörte. Als sie den Raum betrat, hörte sie eine Männerstimme brüllen.
«
Heyaha
. Da ist sie ja. Da ist ja unsere Informantin. Die, die uns von deinen Verbrechen erzählt hat.»
Kamal entfernte das Tuch. Lina öffnete die Augen und stieß einen kleinen Schrei aus.
«Yumma!» Mami.
An einem Seil an der Wand hing die freundliche Irakerin, die sie am Abend zuvor angesprochen hatte. Die wenigen Lumpen hatte man ihr vom Leib gerissen. Ihr Körper war nur noch eine Ansammlung von Stangen. Die Haut war durchscheinend vom Alter, die Brüste hingen wie leere Säcke herab. Über ihr stand ein Mann mit einem riesigen Kopf und einem massigen Körper. Er hielt eine Metallpeitsche – eine
kaybul
– in der Hand. Er redete mit der weißhaarigen Frau.
«Die Lady aus London hat dich denunziert. Sie hat uns alles gesagt, was du ihr gestern Abend erzählt hast. Deine ganzen Parolen gegen die Partei. Deine ganzen Verschwörungen gegen das irakische Volk. Wie du dich mit den Juden gegen die arabische Nation verschworen hast. Sie hat uns alles erzählt. Sie hat dich verraten.»
Lina sagte nichts. Die alte Frau sah ihr direkt in die Augen. Lina sah weg.
«Ya gabha!»
, brüllte der Mann mit dem großen Kopf und hob die Metallpeitsche. «O du Hure! Wir müssen dich für diese schrecklichen Verbrechen gegen die Nation und die Partei bestrafen.» Er ließ die Metallpeitsche mit voller Wucht auf die alte Frau herunterkrachen, deren gebrechliche Gestalt wie ein Haufen Zweige erbebte.
Lina schrie so laut, dass der Schrei der alten Frau kaum zu hören war.
«Ya kalba!»
, fluchte der Folterer, hob seine Metallpeitsche und ließ sie wieder herunterkrachen.
O du Hündin!
Von der alten Frau kam ein erstickter Laut, und dann kam der nächste Schlag und der nächste.
Wieder schrie Lina. Diesmal war es ein Wort.
«Kafi!» Aufhören!
Die alte Frau wand sich jetzt stumm in den Seilen, baumelte wie ein groteske Puppe. Sie sah wieder Lina an. In ihrem Blick war kein Zorn. Nur Vergebung.
«Hört auf!», schrie Lina wieder. Aber es war zu spät. Ein weiterer Schlag sauste auf die Frau nieder. Anstatt zu schreien, stieß sie einen erstickten Laut aus, und ihr zerschlagenes Gesicht lief bläulich an. Während Lina die Agonie der alten Frau beobachtete, sah sie plötzlich das Gesicht ihrer Tante Soha, die etwa so alt wie diese arme Frau gewesen war und unter den gleichen grauenhaften Umständen gestorben sein musste.
«Nehmt mich!», rief Lina. «Ich tausche mit ihr. Hört auf! Nehmt mich stattdessen.»
Der Mann mit der Metallpeitsche brach seinen nächsten Schlag ab. Aber für die alte Frau kam die Rettung zu spät. Ihr Kopf war schlaff zur Seite gekippt. Sie ließen sie einen Augenblick da hängen und leerten einen Eimer Wasser über ihr aus, in der Annahme, sie würde dadurch wieder zu sich kommen, aber es war zu Ende mit ihr. Später sahen sie, dass sie sich ein Stück ihrer eigenen Zunge abgebissen hatte, als sie mit den Schlägen begonnen hatten. Sie war in die Ewigkeit befreit worden.
«Willst du, dass wir dich jetzt verhören oder später?», fragte Kamal.
«Jetzt», sagte Lina. Sie war bereit zu sterben.
«Dann machen wir es später.» Kamal lachte. Es war komisch. Sie führten Lina wieder ab, den Gang hinunter. Sie waren alle erschöpft. Das Verhör würde am nächsten Tag beginnen.
33
Sam Hoffman ging gerade über den Hanover Square, als er von hinten von jemandem angestupst wurde. Er beachtete es zuerst nicht. Er war unterwegs zur Bibliothek des British Museum, wo es eine vollständige Sammlung der Schweizer Bankvorschriften gab, die
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