Blutgesicht
starr stehen, doch der Maler an ihrer Seite streckte seinen Arm aus. Sie hörte, wie die Hand über die Wand hinwegglitt, dann hatte er den Lichtschalter gefunden und kippte ihn um.
Es war wie im Raum zuvor.
Kein Licht unter der Decke. Nur eine breite Lampe hing über dem Gemälde. Ungefähr eine Armlänge lang, mit einem dunklen, tiefschwarzen Schirm, dessen Innenseite eine andere Farbe zeigte, die in einem krassen Gegensatz stand. Sie schimmerte golden. Durch diesen Anstrich wurde das Licht der Lampe wie ein heller Schleier von oben her auf das düstere Bild geworfen.
Jane Collins verkrampfte, als sie das Gemälde anschaute. Vom Kopf bis zu den Hüften hatte sich Nathan Lassalle selbst gemalt, und er trug dabei die gleiche Kleidung, wie er sie auch jetzt anhatte. Er schien nur diese eine zu haben. Jane registrierte es am Rande. Viel wichtiger war das Gesicht.
Kein Blutgesicht!
Jane Collins hielt sich noch immer nahe der Türschwelle auf, weil sie sich nicht traute, auf das Gemälde zuzugehen. Lassalle drängte sie auch nicht, er ließ sich Zeit. Wie ein großer, dunkler und böser Vogel lauerte er an der Seite.
Der Schein fiel tatsächlich bis zum unteren Rand des Bildes hinab, in den die Hüften ausliefen. Das verzerrte, böse Gesicht mit der unten breiten Nase, das locker fallende Haar, die gelblichbraune Haut – die gleiche wie auch an den Händen –, es war alles da. Und es war so verdammt lebensecht gemalt worden, als könnte diese Gestalt jeden Augenblick als lebende Person aus dem Rahmen steigen.
»Zier dich nicht so, Jane. Tritt nur näher. Du mußt es dir aus der Nähe anschauen. Erst dann entfaltete es seine gesamte Wirkung. Dann wirst du immer neue Dinge entdecken. Wunderschöne Sachen.« Lassalle fing an, sich selbst zu loben. »Es wird dich in seinen Bann ziehen. Du wirst beeindruckt sein, denn du wirst erleben, wie sich Kunst, Geist und Magie miteinander mischen.« Magie – das war es!
Zum erstenmal hatte der Maler das Wort ausgesprochen. Jane Collins hatte damit gerechnet, nicht nur das, sie wußte sogar Bescheid, daß Magie eine Rolle spielte, aber sie hatte sich nicht dagegen gestellt, weil dieses Bild sie so wahnsinnig faszinierte und sie in seinen Bann geschlagen hatte. Da hatte sie ihre Bedenken zurückgedrängt. Vielleicht waren sie auch von einer anderen Kraft zurückgedrängt worden. Sie konnte es selbst nicht genau sagen.
Die Nervosität war nicht zurückgegangen. Lassalles Worte hatten sie sogar gesteigert. Der Atem drang schwer über ihre Lippen. Sie empfand es plötzlich als zu warm, und der feuchte Schweißfilm verteilte sich auf ihrem Gesicht. Auf der Oberlippe lagen die kleinen Tropfen wie mit dem Pinsel getupft. Jane traute sich nicht, den Arm zu heben und sie wegzuwischen. Starr blieb sie stehen, den Blick auf das Bild gerichtet, das sich nicht veränderte, wobei Jane es trotzdem vorkam, als würde es auf seine Art und Weise leben.
Wieder spürte sie den Druck der Hände an ihrem Rücken. Nathan Lassalle wollte nicht mehr länger warten. Er hatte seinen Plan. Jane spielte darin eine Hauptrolle, und er wollte, daß sie etwas tat. Noch einmal flüsterte er die Worte in ihr Ohr. »Geh zu ihm, Jane. Geh hin, es wartet auf dich. Es ist so, als würde ich auf dich warten, verstehst du das?«
Die Detektivin nickte. Sie wehrte sich auch nicht mehr. Dem Maler konnte sie sowieso nichts entgegensetzen. Das hier war sein Bereich, und das war hier sein Spiel.
Also setzte sie den ersten Schritt. Der Druck an ihrem Rücken verschwand. Das Gemälde war für sie wie ein Magnet, und sie selbst sah sich als ein Stück Eisen an, das unabwendbar von diesem Magneten angezogen wurde. Selbst wenn sie es sich jetzt anders überlegt hätte, die Chance für eine Rückkehr wäre nicht mehr dagewesen. Zu stark hielt die andere Kraft sie bereits im Griff.
Die Wand, das Licht, das Bild – für Jane Collins war alles eins geworden. Drei verschiedene Teile, ein Meer. Da schwammen die Dinge ineinander und waren trotzdem getrennt, denn für Jane trat die Wand in den Hintergrund und das Licht ebenfalls, obwohl es nach wie vor von oben her auf das Gemälde streute.
Vielleicht wäre sie sogar gegen das Kunstwerk gelaufen, hätte Lassalle nicht reagiert. »Es ist gut«, flüsterte er, als Jane eine bestimmte Distanz zu dem Gemälde erreicht hatte, »du kannst jetzt stehenbleiben und es betrachten. Es ist wie für dich gemalt, verstehst du. Ein Kunstwerk nur für dich. Nicht jeder bekommt es zu Gesicht.
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