Blutheide
Zeiten. Nicht mehr und nicht weniger. Dennoch: Er würde sich bei Ben erkundigen, ob Julie noch in Lüneburg lebte. Und dann würde er Kontakt aufnehmen und sich entschuldigen. Einfach, um einen Haken hinter die Vergangenheit machen zu können. Und sicher war auch sie inzwischen längst darüber hinweg und dachte überhaupt nicht mehr an ihn, aber er wollte es abschließen.
»Entschuldigung!« Bene wurde von einer lauten Stimme aus seinen Gedanken gerissen. Vor ihm am Tresen stand ein älterer Herr mit grauem Bart und etwas ungnädigem Gesichtsausdruck.
»Junger Mann, wir sind jetzt seit guten zehn Minuten hier in der Bar und warten darauf, von ihnen bedient zu werden. Meinen Sie wohl, dass das heute noch was wird?«
»Bitte verzeihen Sie, ich komme sofort zu Ihnen an den Tisch!«
Bene ärgerte sich über seinen Aussetzer maßlos. Er konnte nur hoffen, dass sein Chef nichts davon mitbekommen hatte. So was durfte ihm einfach nicht passieren – eine leere Bar, und dann schlechter Service. Er griff zum Tablett, steckte Block und Stift in die Tasche seiner Schürze und begab sich zum Tisch der einzigen Gäste. Über sein privates Schlamassel würde er sich nach Feierabend noch genug Gedanken machen können.
17.33 Uhr
Der Polizist in Ben hatte beschlossen, mit offenen Karten zu spielen, selbst wenn er damit als Privatmensch ein Versprechen brach, doch das musste er jetzt Wohl oder Übel in Kauf nehmen. Nachdem Katharina von ihrer Beobachtung und einer möglichen Verwechslung gesprochen hatte, war dem Kommissar klar geworden, dass seine Mitarbeiter die Tragweite der Situation möglicherweise noch gar nicht überblickten. Und wenn das überhaupt gelingen konnte, dann nur, wenn diejenigen, die an der Ermittlung beteiligt waren, alle Fakten kannten.
Leicht fiel es ihm dennoch nicht. Er hatte sich nach seiner Ansage den Kollegen etwas erklären zu müssen, in sein Büro verzogen und darauf gewartet, dass Tobi von seinem Telefonat wiederkommen würde. Zwischendurch hatte er aus der kleinen Büroküche drei Becher mit heißem Kaffee geholt und sich wieder hinter seinen Schreibtisch gesetzt. Als Katharina und Tobi jetzt in Rehders Büro traten, schüttelte Tobi den Kopf: »Die Kollegin von der Streife weiß tatsächlich nur, dass ein Teen das Paket im Heideglanz abgegeben hat. Er hatte so einen grauen Kapuzensweater an und die Kapuze hing ihm wohl tief im Gesicht. Halt so, wie die Jugendlichen heut rumlaufen. Die Frau vom Empfang konnte ihn deswegen nicht wirklich beschreiben. Außer, dass er nicht gerade gepflegt war und ziemlich schlaksig. Diese Spur können wir also vergessen. Und Spuren hat er bestimmt auch keine auf dem Paketkarton hinterlassen. Er hatte nämlich Radfahrerhandschuhe an. Das ist der Empfangsfrau aufgefallen, weil sie wohl im Gegensatz zu dem Rest seiner Klamotten ziemlich neu aussahen.«
Nachdem Tobi mit seinem Bericht geendet hatte, herrschte erst einmal Stille im Büro, dann räusperte Ben sich: »Ich fürchte, Katharinas Bauchgefühl könnte stimmen«, begann er zögernd. »Und ich bin froh, dass du es ernst genommen und uns informiert hast, denn das könnte der ganzen Geschichte eine andere Wendung geben.«
Ben blickte in zwei ratlose Gesichter am Tisch. »Leonie ist meine Nichte – die Tochter meines Zwillingsbruders.«
Es war ausgesprochen, und Ben spürte beinahe so etwas wie Erleichterung, soweit das in der gegenwärtigen Situation möglich war. Acht Jahre lang hatte er schweigen müssen. Acht Jahre lang hatte er dieses Wissen mit sich herumgetragen, aber nicht danach leben können. Julie hatte ihm dieses Versprechen abgenommen, und er hatte es bis heute nicht gebrochen. Außer vielleicht Alex gegenüber, doch selbst da war es unausgesprochen geblieben. Als Bene Lüneburg damals Hals über Kopf verlassen hatte, war auch Julie eine der Personen gewesen, die damit hatten klarkommen müssen. Sie hatte Bene geliebt, das wusste Ben. Trotz all seiner Macken, seines komplizierten und immer etwas chaotischen Lebens hatte sie ihn ehrlich und ohne Kompromisse geliebt und mit ihm gelebt. Sie war emanzipiert genug gewesen, ihm zu trotzen und ihr eigenes Leben nicht aus den Augen zu verlieren, und Ben hatte oft vermutet, dass es nur deshalb mit den beiden überhaupt so lang gut gegangen war. Umso mehr nahm er es Bene übel, dass er auch sie einfach zurückgelassen hatte. Doch er hatte auch gewusst, dass Julie damit klarkommen würde. Sie würde einem Mann nicht hinterher trauern oder wütend und
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