Blutherz - Wallner, M: Blutherz
Angehörigen des Königshauses bekannt. Trotz verbissener Suche fand Sam allerdings nichts, was ihren fürchterlichen
Verdacht bestätigte. Durfte man es wirklich »Verdacht« nennen? War es physikalisch überhaupt möglich, dass ein fester Gegenstand keine Reflexion im Spiegel hervorrief? Die Silberbeschichtung des Glases warf das einfallende Licht zurück. Dort wo das Licht von einem Gegenstand abgelenkt wurde, erschien dessen Spiegelung. Wer oder was besaß die Fähigkeit, solch unwiderrufliche Gesetze zu durchbrechen?
»Eine Sinnestäuschung!«, versuchte Samantha, sich zu beruhigen. »Vielleicht habe ich in einem ungünstigen Winkel gestanden oder vielleicht ist er zu schnell vorbeigerauscht!«
»Was ist Sinnestäuschung?«, fragte Oberschwester Margret in ihrem Rücken.
»Nichts.« Rasch klickte Sam die verräterische Website weg.
»Ich hoffe, es ist eine Sinnestäuschung meinerseits, dass du seit Stunden meinen Computer blockierst, ohne mir wenigstens eine Tasse Tee gemacht zu haben«, sagte die Tante.
Sam huschte aus dem Büro und setzte Teewasser auf.
Später, während ihrer Nachtschicht, saß sie schon wieder vor dem Computer. Sie hatte die Monitore der kritischen Patienten in Margrets Büro gut im Blick und konnte daneben ihre Suche fortsetzen. Im unsteten Licht der Bildschirme, allein in dem stillen Zimmer, tippte Sam die sechs Zeichen in die Tastatur, die ihr nicht aus dem Kopf gingen. Sie sah die Buchstaben in der Suchleiste aufscheinen und drückte auf Enter. Das Wort VAMPIR löste über sechs Millionen Einträge aus. Das Angebot erstreckte sich von okkulten Websites über die Entstehungsgeschichte der Vampirsage bis zu den Kino-Trailern aktueller Horrorfilme. Sam las und scrollte, sie druckte viele Seiten aus, surfte immer weiter, sprang von Link zu Link, bis sie erschöpft feststellte, dass das Thema in seiner Mischung aus Historie, Sage und Horror-Marketing endlos schien. Geschichtlich erwiesen war lediglich die Existenz des berühmten
Vlad III. Tzepesz, Vlad, der Pfähler, der im 15. Jahrhundert in der Walachei zur Wiedereroberung seines Thrones unvorstellbare Gräueltaten begangen hatte. Die Aura der Grausamkeit dieses Vlad Drakula, Patriarch des Drachenordens, musste so einschüchternd gewesen sein, dass sie über seinen Tod hinaus andauerte. Daraus war der Mythos entstanden, Tzepesz triebe als Untoter sein Unwesen, als Geschöpf der Nacht, als Blutsauger. Nachdem sich viele Dichter des 18. und 19. Jahrhunderts vom Vampirmythos hatten inspirieren lassen, bildete Vlad Tzepesz schließlich auch die Vorlage für Bram Stokers Dracula-Roman. Der irische Autor war allerdings selbst nie in der Heimat von Fürst Vlad III. gewesen. Der Pfähler war und blieb der einzige historische Beweis für die Existenz von Vampiren. Sam lehnte sich in Margrets Sessel zurück. Und selbst von Vlad Tzepesz nahm man lediglich an, dass er Vampir war. Das ganze Drumherum waren aufgebauschte Geschichten, um horrorsüchtige Leute das Gruseln zu lehren. Sie sprang auf. »Ich lasse mir nicht einreden, dass mein Liebster ein Vampir ist!«
Ihr Ärger änderte allerdings nichts daran, dass Sam eigenartige Erinnerungen kamen; Ereignisse fielen ihr ein, die wirklich stattgefunden hatten und nicht von der Hand zu weisen waren. Zum Beispiel hatte sie von den übermenschlichen Kräften der Vampire gelesen. Hatte Teddie bei ihrem allerersten Treffen nicht einen 200 Pfund schweren Muskelprotz mit einem Arm hochgehoben und in die Ecke geschleudert? Bewohnten die Kóranyis nicht ein Haus, wie es im besten Vampirroman kaum besser zu erfinden wäre? Nicht einen einzigen Spiegel hatte Sam in den vielen Zimmern entdeckt. Der dunkelrote Saft, den Vater und Sohn beim Dinner getrunken hatten, konnte auch etwas anderes gewesen sein als Wein. Was, wenn ich Richard Kóranyi unrecht getan habe?, dachte sie.
Trotz seiner Schwäche ist er zu mir gekommen und hat mir sein unglaubliches Bekenntnis gemacht.
»Es kann nicht wahr sein«, murmelte sie. »Weil es nicht wahr sein darf.«
Als ihr Dienst im Morgengrauen endete, wurde sich Sam bewusst, dass sie eine gefährliche Entscheidung zu treffen hatte. Wenn sie ihren Verdacht ernst nahm, musste sie jeden Kontakt zu Teddie und seiner Familie sofort abbrechen. Sollte sie ihre Vermutung aber als Humbug verwerfen, sprach nichts dagegen, der Einladung Valerians zu folgen und die Vernissage zu besuchen. Sie konnte allerdings auch – die Möglichkeit fiel ihr erst ein, als sie wieder in ihrem Zimmer war
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