Blutholz: Historischer Roman (German Edition)
niemand mehr blicken.«
Martin strich sich über seinen Schädel und schaute auf die Steinplatten, an denen Gregor einst festgefroren war. Während sie wieder hinausgingen, fuhr er sarkastisch fort: »Heute stünde es also schlecht um eine wie Euch. Wenn wir gleich an der Mauer stehn, hoff’ ich nicht, dort Kindsgebeine zu finden.«
»Ihr habt eine Art, Bruder Martin, die ist herb«, erwiderte Barbara. »Aber sagt, war die Mauer damals auch schon so schief? Die Eichen drücken sie wohl bald vollends um. Man hätte sie rechtzeitig umhauen sollen.«
»Gregor hat einmal drauf hingewiesen. Aber es ist vergessen worden. Warten ist bequemer. So, hier habt Ihr gelegen. Nass und hungrig.«
Bernward bückte sich und riss ein paar Wiesenblumen ab. »Auch wenn es sich übertrieben anhört, sie sollen mein Talisman werden«, sagte er.
»Nur zu«, entgegnete Bruder Martin. »Ihr steht in den Jahren, wo man so etwas wieder darf.«
Barbara lachte und kniff Bernward in die Wange. »Ich werd’ auch welche pflücken«, sagte sie. »Für Gregor. Er hat mehr Anrecht darauf als ich. Es ist schön hier, aber irgend etwas stößt mich weg. Und fast bekomm’ ich Angst, dass mir die Phantasie alle möglichen Bilder vor die Augen stellt, wie ich hier wohl einst abgeworfen wurde.«
Bruder Martin nickte nur. Dass aus dem Säugling, den er einst gefüttert hatte, tatsächlich dieses verführerische Weib geworden war, kam ihm immer unbegreiflicher vor, je länger er Barbara anschaute. Nachdenklich blickte er auf seine Hände und war versucht, die Altersflecken darauf zu zählen. Doch dann gab er sich einen Ruck und stapfte in Richtung Friedhof. Er wollte es hinter sich bringen. Nur zum Grab führen würde er die beiden noch und sich dann gleich von ihnen verabschieden. Der Tod war ihm widerwärtig.
17
Der Friedhof lag nach dem Osten zu, zwischen Klosterkirche und Abtstrakt. Schlichte Holzkreuze, einige davon morsch, deuteten auf die Gräber. Gräber ohne allen Aufwand, in die natürlichen Unebenheiten des Bodens geschaufelt und wieder mit Gras versiegelt. Martin hatte einen kleinen Zettel in der Hand, zählte murmelnd Reihen und Kreuze. Schließlich blieb er zögernd stehen. Doch nachdem er sich noch einmal umgeblickt und gezählt hatte, nickte er und zeigte auf ein vom Wetter angegriffenes, schiefes Kreuz. Schnell betete er ein Vaterunser, hielt für einen Augenblick den Kopf gesenkt, verbeugte sich dann zum Abschied und verschwand in Richtung des Gemüsegartens.
Aus einigen offenen Fenstern im Abtstrakt strömten Violinfigurationen und die brabbelnden Laute eines Fagotts. War es für Sekunden still, war das spitze Zittern eines Cembalos zu hören. In dem Moment, wo Barbara ihren Wiesenblumenstrauß vor das Kreuz legte, begann in der Kirche die Orgel ein beschwingtes Fugenthema anzustimmen. Während Barbara betete, begann der Spieler wohl ein halbes Dutzendmal von vorne, weil er jedes Mal an der gleichen Stelle patzte. Barbara fühlte sich so sehr gestört, dass sie schließlich mit einem mürrischen Amen schloss..
»Ein wahrer Mönch bräuchte hier neben Augen- vor allem Ohrenlider«, sagte Bernward. »Sollten wir in naher Zukunft einmal hören, dass irgendwo im Schwarzwald die Toten aus den Gräbern gestiegen sein sollen, werden es mit Sicherheit die hier gestörten Brüder gewesen sein.«
» Tempora mutaverunt, und ich dachte, ich finde hier Ruhe und Frieden«, sagte Barbara. »Stattdessen tönt’s, als ob die Brüder zum letzten Fest aufspielen wollten, weil die Zeitläufte sie für überflüssig erklärt haben. Bald wird es sich herumsprechen. Dann kommt einer und schließt die Pforte. Die nächsten brechen die Pracht Stein für Stein ab. Und am Schluss bleibt nur die alte Krankenkapelle übrig. Tennenbach fuerit .«
»Ja, dann wird Tennenbach gewesen sein«, sagte Bernward. » Tempora mutantur .«
»So wenig besinnlich wie jetzt, nur aus ganz anderm Grund, war es letztes Jahr am Allerseelentag auch«, sagte Barbara nach einer längeren Pause und lehnte sich an Bernward, der sie sanft zu schaukeln begann. »Ich kam gerade vom Friedhof und traf meine Nachbarn, die Schnitzers. Den Alten und Maria. Irgendwie standen wir dann vor dem Grab ihres zweiten Mannes, dem ehemaligen französischen Feldwebel. Maria hat geweint, denn sie war sehr glücklich mit ihm, sechs Jahre lang. Umgekommen ist er beim Holzschlagen. In unserm Hain. Neben der Rieseneiche. Es soll ein Unfall gewesen sein.«
»Ist ihm auch die Axt ausgerutscht?«,
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