Blutiger Engel: Thriller (Ein Alice-Quentin-Thriller) (German Edition)
Ermittlungen nicht mehr voran, doch half es der Polizei wahrscheinlich auch nicht weiter, wenn ich Andrew heute Abend ihretwegen warten ließ.
Auf dem Weg durchs Treppenhaus sprach ich ihm auf die Mailbox. Denn zwar hatte er den ganzen Nachmittag Termine, aber wenn ich Glück hätte, würde er seine Nachrichten noch abhören, bevor er zu mir kam.
Das Taxi fuhr über die London Bridge, und fünf Minuten später hatte ich mein Ziel erreicht und stieg vor einem eleganten georgianischen Stadthaus aus. Sicher hatte ein wohlhabender Kaufmann oder Händler es errichten lassen, doch inzwischen waren verschiedene Unternehmen, deren Logos rechts neben der Haustür prangten, in dem Haus untergebracht. Die Mieten waren bestimmt astronomisch, denn das Haus lag mitten im Finanzdistrikt, höchstens einen Steinwurf von der Angel Bank entfernt.
Ich hatte keine Ahnung, was ich im Büro von einem Broker sollte, doch allein wegen der Aussicht lohnte sich der Weg durchs Treppenhaus. Von oben konnte ich die City aus der Vogelperspektive überblicken. Die Bank of England sonnte sich im warmen, abendlichen Licht und in der Gewissheit, dass sie unbezwingbar war.
Ganz oben war das Treppenhaus von Mitgliedern der Spurensicherung in blauen Anzügen bevölkert, und ich sah das gelbe Absperrband der Polizei vor einer offenen Tür. Die Frau, die gerade eine weiße Plastikbox nach draußen trug, winkte mich nach einem kurzen Blick auf meinen Ausweis in den breiten Flur. Mit den riesigen Schwarzweiß-Aufnahmen der Londoner Skyline, die die dunkelgrau gestrichenen Wände schmückten, fühlte er sich nicht wie Teil eines Büros, sondern wie der Eingang einer Wohnung an. Einer Junggesellenbude, weil es nirgends eine Spur von Weichheit, eine Pflanze oder wenigstens ein buntes Kissen gab.
Ich hörte, dass sich irgendwo im Inneren der Wohnung Leute unterhielten, konnte aber keinen Menschen sehen.
»Hallo?« Die beiden Silben prallten von den dunklen Wänden ab.
Durch eine geschlossene Tür hörte ich Burns’ Stimme, doch Pete Hancock ließ mich erst an sich vorbei, nachdem ich einen Schutzanzug und Plastiküberzieher in die Hand gedrückt bekommen hatte und mein Name in die Liste der vor Ort befindlichen Personen eingetragen worden war. Er war so einsilbig wie immer, und ich wusste, dass er dachte, Seelenklempner säßen besser hinter ihren Schreibtischen, statt ahnungslos an irgendwelchen Tatorten herumzulaufen und den Kriminaltechnikern unnötig die Arbeit zu erschweren. Seine durchgehende schwarze Braue rutschte ihm fast in die Augen, als er schnauzte: »Ihre Haare sind nicht vollständig bedeckt.«
Folgsam schob ich ein paar lose Strähnen unter die Kapuze meines Schutzanzugs und öffnete die Tür des Nebenraums. In das hochmoderne Badezimmer hätte mühelos ein ganzes Rugby-Team gepasst, und tatsächlich drängte sich ein ganzer Trupp von Männern dort. Schwarz glänzende Fliesen reichten von der Decke bis zum Boden, und die Chromregale waren mit Bergen frisch gewaschener Hand- und Badetücher vollgepackt. Doch alles andere an dem Bild war irgendwie verkehrt. Ein Spurensicherer nahm Fingerabdrücke vom Spiegel, der gesamte Fußboden stand unter Wasser, und Don Burns schien in dem Plastikanzug, den er tragen musste, langsam, aber sicher zu ersticken, denn sein Grinsen wirkte fiebrig, und er hatte eine schweißglänzende Stirn.
»Sie werden nicht glauben, was passiert ist«, meinte er. »Wollen Sie mal gucken?«
»Habe ich denn eine andere Wahl?« Ich bahnte mir einen Weg über die nassen Fliesen, bis ich vor der Badewanne stand.
Das Wasser, das über den Rand lief, hatte einen zarten Rosaton. Ich rieb mir die Augen, doch das Bild veränderte sich nicht.
Ich wusste, wer dort lag und mich durch dreißig Zentimeter Wasser hindurch reglos ansah, aber irgendwie ergab diese Information nicht den geringsten Sinn. Dünne Fäden Blut rannen aus den Schnittwunden an seinen Handgelenken, und die dunklen Strähnen seines Haars breiteten sich wie Tang unter der Wasseroberfläche aus.
32
Ich konnte sehen, dass es Andrew war, doch mein Verstand verwarf diese Erkenntnis ein ums andere Mal. Trotzdem lauerte sie irgendwo in meinem Hinterkopf, um umso härter zuzuschlagen, wenn ich meine Augen schloss.
»Alles in Ordnung?« Die Stimme von Don Burns drang wie aus weiter Ferne an mein Ohr.
Ich kann mich nicht daran erinnern, dass er mich nach draußen führte, aber offensichtlich war es so, denn mit einem Mal saß ich in einem riesengroßen Wohnzimmer,
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