Blutiger Engel: Thriller (Ein Alice-Quentin-Thriller) (German Edition)
und jemand von der Spurensicherung nahm dort sämtliche Gegenstände auf. Wie durch einen Schleier sah ich Brotherton, die ihr Handy unter einem ihrer grauen Rattenschwänze an ihr Ohr presste und eindringlich auf jemanden einredete. Als sie sich nach Steve Taylor umdrehte, bewegte sie sich viel zu langsam, als wate sie durch einen Swimmingpool.
Ich massierte mir die Stirn und versuchte mein Gehirn wieder in Schwung zu bringen. Gestern hatte Andrew noch gelebt und mich besuchen wollen. Sicher würde ich gleich wach, und der Tag finge noch einmal, ganz normal, von vorne an.
»Das ist doch der Typ, der Sie auf diesem Essen von den Bankern angesprochen hat, nicht wahr?«, erkundigte sich Burns.
Ich schüttelte den Kopf. »Wir waren befreundet.«
»Und seit wann?«
»Seit ein paar Wochen.«
Langsam wich die Farbe aus seinem Gesicht. »Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich Sie nicht kommen lassen. Ich fürchte, es sieht aus, als hätte er etwas mit unserem Fall zu tun gehabt, Alice.«
»Was wollen Sie damit sagen?« Noch immer nahm ich alles nur verschwommen wahr, und die Möbel sahen aus, als schwebten sie einen Fußbreit über dem Parkett.
Taylor hörte uns anscheinend zu, denn er grinste bis über beide Ohren und wirkte wie berauscht von seinem Ego und dem unerwarteten Triumph.
»Das hier haben wir in seinem Büro gefunden«, prahlte er und zeigte auf den Couchtisch, auf dem eine Reihe Plastiktüten lag.
Eine war mit weißen Federn vollgestopft, und in der anderen steckte ein gutes Dutzend Postkarten. Der Engel, der ganz oben auf dem Stapel lag, blickte unschuldig unter die Decke, und meine Brust zog sich so eng zusammen, dass die Luft laut zischend aus meinen Lungen wich.
»Die sind nicht von ihm«, erklärte ich. »Er hätte keinem Menschen je auch nur ein Haar gekrümmt.«
Taylor ignorierte mich. »Sie können sich gar nicht vorstellen, wie gut der Kerl ausgerüstet war. Nur schade, dass die Kamera neben der Wohnungstür nicht funktioniert – sonst wüssten wir, wer alles hier bei ihm in seiner Bude war.«
Eilig lief er wieder davon, und ich zwang mich aufzustehen. Burns sah mich so ängstlich an, als befürchte er, dass ich im nächsten Augenblick in Ohnmacht fiele, aber ich wollte wieder zurück ins Bad, damit Andrew allen diesen Menschen nicht länger alleine ausgeliefert war. Sicher lag er immer noch in Boxershorts und T-Shirt in der Wanne und sah die Beamten durch das Wasser hinweg an. Am liebsten hätte ich geschrien, sie sollten alle abhauen, damit ich Abschied von ihm nehmen könnte, doch ich zwang mich, mir zunächst die ganze Wohnung anzusehen. Sie kam mir unecht wie eine Filmkulisse vor, so zwanghaft aufgeräumt, als hätte jemand sie von Anfang an als Mausoleum vorgesehen. Ich erinnerte mich daran, dass er mir erzählt hatte, er wäre erst vor kurzem eingezogen. Wahrscheinlich hatte er kaum einen freien Abend hier verbracht, denn er hatte immer alle Hände voll zu tun gehabt. Persönliche Gegenstände suchte man vergeblich, und nirgends lagen Bücher oder Zeitungen herum.
Als ich Andrews Schlafzimmer erreichte, griff ich mir ans Schlüsselbein und kämpfte gegen meine aufsteigende Übelkeit. Die Bettdecke war aufgeschlagen, so, als wäre Andrew erst vor zwei Minuten aufgesprungen, um Kaffee zu kochen oder sich die Zeitung holen zu gehen. Hätte ich ihn gestern Abend zu mir kommen lassen, wäre er womöglich noch am Leben. Gleichzeitig jedoch fielen mir wieder Taylors Kommentare ein. Vielleicht hatte ich mich tatsächlich in ihm getäuscht. Ich wäre die perfekte Zielperson gewesen – einsam und naiv genug, um alle Hinweise zu übersehen. Doch es hatte keine Hinweise gegeben. Die seltsamen Wutausbrüche waren jedes Mal im Handumdrehen wieder verflogen, und während ich mir mit einer Hand über die müden Augen fuhr, erinnerte ich mich an seine Sanftheit und die Zeit, die er geopfert hatte, um für andere Menschen da zu sein. Ich durfte auf keinen Fall an Andrew zweifeln. Denn wenn ich ihn jetzt im Stich ließ, könnte ich nie wieder in den Spiegel sehen.
Ich zwang mich, mich weiter umzusehen. Der vorherige Bewohner des Apartments musste ein James-Bond-Fan ohne allzu viel Geschmack gewesen sein. Es gab ein Gästezimmer, dessen eine Wand fast vollständig hinter einem riesigen Schwarzweiß-Poster von Marilyn Monroe verschwunden war, eine Sauna sowie einen Fitnessraum. Selbst ein Hotel hätte wahrscheinlich mehr Persönlichkeit gehabt. Nur im Arbeitszimmer hatte Andrew Spuren hinterlassen.
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