Blutiger Engel: Thriller (Ein Alice-Quentin-Thriller) (German Edition)
dass es ihnen keineswegs gefiel, dass jemand Fremdes hier in ihrem Territorium eingedrungen war. Vor einer Flügeltür blieb Andrews Vater stehen und flüsterte mir zu: »Ich fürchte, Miriam ist augenblicklich nicht sie selbst.«
Die Frau, die in einem Sessel vor dem Fenster saß, erschien mir viel zu jung, um die Mutter eines Vierzigjährigen zu sein. Sie betrachtete ein Fotoalbum, aber als sie aufsah, merkte ich, dass ihr Gesicht fast faltenfrei und beinahe kindlich war. Zuallererst bemerkte ich die Mischung aus Zorn und Unglauben, die aus ihren Zügen sprach. Wahrscheinlich hatte ihr die Polizei grauenhafte Sachen über Andrew erzählt. Sie klappte das Album zu, blickte mich fragend an, und ich sprach ihr mein Beileid aus.
»Bisher hat sich kaum jemand hierhergetraut«, murmelte sie. Sie hatte dieselben braunen, neugierigen Augen wie ihr Sohn.
»Ich möchte Ihnen eine Frage stellen. Ich dachte, vielleicht wüssten Sie, mit wem Andrew in der Nacht von seinem Tod zusammen war.«
»Es ist zu spät für Fragen«, schnauzte sie mich an, doch fast im selben Augenblick wurde der Zorn in ihrem Blick durch einen Ausdruck der Trauer ersetzt. »Es tut mir leid. Nur kommt mir all das Reden völlig sinnlos vor. Keiner von uns hat es bisher geschafft, seiner Schwester zu erzählen, was geschehen ist.« Ihr Mund fing unkontrollierbar an zu zucken. »Andrew hat so hart gearbeitet, dass er gar nicht gemerkt hat, was er dadurch alles verpasst.«
»Er hat an sich selbst immer zuletzt gedacht, nicht wahr?«
Urplötzlich bekam sie einen klaren Blick. »Waren Sie seine Freundin?«
»Die Beziehung stand noch ganz am Anfang.«
»Sie sind die Psychologin. Ja, natürlich. Er hat uns alles von Ihnen erzählt.« Miriams Gesicht hellte sich flüchtig auf. »Würden Sie sich vielleicht gerne ein paar Fotos von ihm ansehen?«
Ich blätterte das Album durch und sah Andrew beim Fußballspiel, bei einer Theateraufführung seiner Schule und wie er mit seiner Schwester hoch oben in einem Baumhaus saß. Er sah auf allen Bildern gleich aus, schlaksig und verschmitzt und mit schmalen langen Fingern, hinter denen er sein schiefes Lächeln vor der Kamera verbarg.
Ich wandte mich wieder an Miriam. Sie hatte den Kopf gesenkt und ließ ihren Tränen freien Lauf.
Andrews Vater kam herein, doch für mich sah es so aus, als nähme er ihr Unglück gar nicht wahr. Leise dankte ich ihm dafür, dass ich stören durfte, und nachdem er mich wieder zur Tür begleitet hatte, blieb er vor mir stehen.
»Ich weiß einfach nicht, wie ich sie trösten soll. All das ergibt nicht den geringsten Sinn.«
Ich legte schweigend meine Hand auf seinen Arm, denn mir fiel beim besten Willen keine Antwort ein. Schließlich aber blickte ich ihn fragend an. »Können Sie mir vielleicht sagen, welcher Art Andrews Beziehung zur Angel Bank gewesen ist?«
Als er wieder etwas sagte, wirkte er erregt. »Die Bank hat mehr Geld in seine Projekte investiert als jeder andere. Trotzdem hat er mir vor ein paar Monaten erklärt, er fände es entsetzlich, dass er mit ihnen Geschäfte machen muss. Er wollte die Zusammenarbeit mit ihnen beenden und sich nach anderen Spendern umsehen.«
»Und wie haben Sie darauf reagiert?«
»Ich habe ihm gesagt, er sollte nicht dumm sein. Denn die Stiftung bräuchte jede Unterstützung, die sie kriegen kann.« Seine Stimme wurde rau. »Ich wünschte mir, ich hätte ihm geraten, auf sein Herz zu hören. Vielleicht wäre er dann noch am Leben.«
»Es ist ganz bestimmt nicht Ihre Schuld.«
Der alte Mann sah mich aus tränenfeuchten Augen an. »Sie werden doch wohl wiederkommen, oder?«
»Wenn Sie möchten, gern.«
Er stand immer noch oben an der Treppe, als ich fuhr. Das Einzige, worauf ich hoffen konnte, war, dass Burns und Taylor keine weiteren Informationen an die Presse gäben. Denn das alte Paar würde daran zerbrechen, wenn es wüsste, dass die Polizei den toten Andrew für den Angel Killer hielt.
Im Zentrum von Richmond parkte ich in einer Seitenstraße und blickte mich um. Das Dorf wirkte wie ein Paralleluniversum, in dem nie etwas Unrechtes passierte. Die Kricketspieler auf der Wiese trugen makelloses Weiß, und Gruppen Einheimischer saßen in der Sonne vor den Pubs. Doch die idyllische Umgebung lenkte mich nur kurzfristig von meinen Sorgen ab. Ich fragte mich, weswegen Andrew nie eine Partnerin gefunden hatte – sicher hatten ihm doch Dutzende standesgemäßer junger Frauen den Hof gemacht, und um sie alle abzuweisen, hatte es einer
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