Blutiger Engel: Thriller (Ein Alice-Quentin-Thriller) (German Edition)
Hand gestanden hatte, sicherlich enorm gewesen war, hatte er wie ein freundlicher Geschichtslehrer auf mich gewirkt. Ich konnte gut verstehen, dass er bei dem Gedanken, dass ich seiner Frau etwas verraten könnte, in heillose Panik ausgebrochen war. Denn das brächte nicht nur ihn, sondern die ganze Familie in Gefahr.
»Henrik würde mich niemals einfach verlassen. Wir sind seit dreißig Jahren verheiratet.« Sonias Stimme wurde schrill, als würde sie ihm die Leviten lesen dafür, dass er über Nacht verschwunden war. »Er war schon seit Monaten in einem grauenhaften Zustand – manchmal wurde es so schlimm, dass er kaum noch gesprochen hat. Ich habe ihm die ganze Zeit gesagt, dass er endlich mal zum Arzt gehen soll.«
Als hätte irgendjemand ein Ventil geöffnet, brach sie urplötzlich in Tränen aus.
»Beruhig dich, Mum. Es ist ganz sicher nichts passiert, es geht ihm sicher gut.« Rina legte einen Arm um ihre Schultern, und das Schluchzen ebbte ab.
Burns stand wieder auf. »Wir werden alles in unserer Macht Stehende tun, um Ihren Mann zu finden. Das verspreche ich.«
Ich folgte ihm über den zugewachsenen Weg und, ohne mich auch nur anzusehen, öffnete er mir die Beifahrertür des Mondeo. Dann lauschte er angestrengt dem Polizeifunk, ich aber konnte wegen des starken Rauschens kaum ein Wort verstehen.
Schließlich schaltete er mit einem leisen Fluch das Gerät aus.
»Was ist los?«, fragte ich ihn.
»Freibergs Wagen steht in der Pacific Wharf.«
»Das ist doch eine gute Nachricht, oder?«
»Weiß der Himmel«, antwortete er schulterzuckend. »Es heißt, dass er abgefackelt worden ist.«
41
Wir brauchten eine Stunde für die Fahrt, denn die Straßen in Richtung Südosten waren wieder einmal dicht. Bis wir Bermondsey erreichten, hatten die extravaganten Villen grauen Blöcken mit Sozialwohnungen Platz gemacht. Ich kannte die Pacific Wharf recht gut, denn auf meinem Weg nach Rotherhithe lief ich immer direkt daran vorbei. Je weiter man nach Osten kam, umso weniger gesund wurde die Gegend, und auch die Pacific Wharf hatte vom Immobilienboom bisher nicht im Geringsten profitiert. Entlang des Flusses hatten Bauträger Apartmentblocks errichten wollen, weil die Aussicht eine Garantie für hohe Mieteinnahmen war. Dann aber war ihnen das Geld vor Fertigstellung der Gebäude ausgegangen, und jetzt ragten hässliche Betonskelette mit rostigen Metallverstrebungen, die Wind und Wetter hilflos ausgeliefert waren, in den Himmel auf.
Burns parkte in der Rotherhithe Street, und wir liefen Richtung Fluss. Das Wasser war metallisch grau und nur unbedeutend heller als die dichte Wolkenwand, die sich über uns zusammenzog.
»Die Kavallerie ist auch schon da«, bemerkte er.
Ein Van von der Spurensicherung, zwei Streifenwagen und ein Löschfahrzeug der Feuerwehr drängten sich vor einem halbfertigen Apartmentblock. Bisher sah man von dem Gebäude nur das Erdgeschoss, und eine Reihe von Betonwänden und Stahlträgern lag auf der Erde, so, als hätten sich die Bauarbeiter plötzlich einfach aus dem Staub gemacht. Burns sprach kurz mit einem Menschen von der Feuerwehr, der vor der Absperrung der Tiefgarage stand. Die Bauträger hatten anscheinend hochfliegende Pläne für die alte Werft gehabt, denn in der Tiefgarage hätten Hunderte von Wagen Platz gehabt. Jetzt aber stand sie völlig leer, und das Einzige, was ich bemerkte, waren der beißende Gestank verbrannten Gummis, der mir entgegenschlug, und das laute Echo unserer Schritte, als ich hinter Burns zu dem ausgebrannten Wagen lief.
»Warten Sie hier, Alice.«
Wieder mal nahm uns Pete Hancock in Empfang. Der Chef der Spurensicherung verfolgte stirnrunzelnd, wie Burns in seinen blauen Plastikanzug stieg, und dann verschwanden beide Männer hinter einer Reihe Paravents.
Als Burns nach einer Weile wieder auftauchte, verriet mir sein Gesicht, dass der Anblick, der sich ihm geboten hatte, alles andere als angenehm gewesen war. Er war erschreckend blass, und nur sein Stolz verhinderte, dass er sich irgendwo in einer dunklen Ecke übergab.
»Er ist hier«, murmelte er und sah mich mit glasigen Augen an. »Ich an Ihrer Stelle würde ihn mir nicht ansehen. Dadurch bleiben Ihnen sicher ein paar Alpträume erspart.«
Ich atmete tief durch und ging an ihm vorbei. Allmählich hasste ich es, die grauenhaften Plastikanzüge der Kriminaltechniker anzuziehen, denn von dem trockenen Material juckte jedes Mal die Haut. Hinter dem Paravent bot sich mir ein noch viel grässlicherer
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