Blutiger Engel: Thriller (Ein Alice-Quentin-Thriller) (German Edition)
Muster ab. Und ebenso sicher trüge Poppy wieder einmal ein verführerisches Kleid und bereitete sich auf den nächsten Kunden vor.
Doch die Straße vor dem Haus war menschenleer. In der Viertelstunde, die wir gegenüber von der Haustür saßen, während Burns Befehle in sein Handy bellte, trat nicht ein einziger Freier durch die sperrangelweit aufstehende Tür.
Ich fragte mich, weshalb sie überhaupt noch zahlenden Besuch empfing. Wahrscheinlich hätte sie problemlos einen ihrer Freunde dazu überreden können, ihr noch einmal eine Reha zu bezahlen. Vielleicht ertrug sie einfach den Gedanken nicht, wieder die Tochter eines Viscounts und zu einem Leben auf dem Land und einer Ehe mit einem reichen Schnösel gezwungen zu sein.
Wir traten vor ihre Wohnungstür, doch als Burns vernehmlich klopfte, rührte sich im Inneren des Apartments nichts. Er bückte sich und spähte durch den Briefschlitz in den Flur.
»Da stimmt was nicht«, erklärte er. »Jemand hat die Bude auf den Kopf gestellt.«
Er wies mich an zurückzutreten, warf sich schwungvoll gegen das Holz, und ich hörte es splittern. Aber schließlich hielt wahrscheinlich kaum ein Hindernis einem Frontalangriff von einem Mann seiner Statur auf Dauer stand. Er massierte sich die Schulter, während er über die Schwelle trat und das Durcheinander betrachtete. Ein Schrank war umgeworfen worden, und zahlreiche Schlüssel, Briefe, Fotos lagen auf dem Fußboden verstreut.
Trotzdem war es in der Wohnung eigenartig still. Wenn Poppy da gewesen wäre, wäre sie längst wütend in den Flur gestürzt, weil wir einfach bei ihr eingedrungen waren.
Im Wohnzimmer war kaum etwas beschädigt – einzig auf dem Boden lagen ein paar Scherben, ein paar der Bilder hingen schief – und die Küche wirkte völlig unberührt. Jemand hatte dort vor kurzem Kaffee aufgesetzt, denn das rote Licht an der Maschine blinkte noch.
Burns öffnete die Tür von Poppys Schlafzimmer, wich stolpernd einen Schritt zurück und bellte: »Gehen Sie da bloß nicht rein.«
Fluchend zerrte er sein Handy aus der Tasche und bestellte acht Beamte, einen Pathologen und die Spurensicherung. Auch ohne hellsehen zu können, wusste ich, dass Poppy nicht mehr lebte, aber trotzdem war ich auf den Anblick nicht gefasst. Sie lag quer über dem Bett und trug ihr Lieblingskleid, das einmal pinkfarben gewesen war. Jetzt sah es so aus, als hätte jemand es in verschiedenen Rottönen gefärbt. Dieser Jemand hatte Dutzende von Malen derart heftig auf sie eingestochen, dass die Wunden unter dem zerfetzten Stoff deutlich zu sehen waren. Den Großteil seiner Energie allerdings hatte er auf ihr Gesicht verwandt. Es war nicht mehr wiederzuerkennen. Anstelle ihrer Nase klaffte oberhalb des Munds ein riesengroßes Loch, das von Fetzen leuchtend roten Fleischs umgeben war, und der braune Brei auf ihrem Kopfkissen mussten die Überreste ihrer Augen sein.
Filippino Lippis Engel aber störte dieser Anblick offenkundig nicht. Er lehnte, umgeben von weißen Federn, am Kopfteil des Betts und bedachte mich mit seinem unschuldigen Blick.
Meine erste Reaktion war heißer Zorn vor allem auf mich selbst. Weil es mir nicht gelungen war, Poppy dazu zu bewegen, vorsichtig zu sein. Weil ich Burns nicht dazu gebracht hatte, zwei Beamte zu ihrer Bewachung abzustellen.
Mir fielen unsere letzte Unterhaltung und die trockene Berührung ihrer Fingerspitzen ein, und es machte mich krank, dass sie einen noch grässlicheren Tod als all die anderen gestorben war.
Auf dem Couchtisch lag ihr Terminkalender. »Da steht bestimmt sein Name drin.«
Burns streifte sich Gummihandschuhe über die Hände und schlug den Kalender auf. »Anscheinend hat sie heute freigemacht. Weil hier keine Termine stehen.«
Die Spurensicherung erschien, und die von Kopf bis Fuß in Blau gehüllten Leute spannten gelbes Absperrband vor Poppys Wohnungstür. Ich blickte in das zweite Schlafzimmer, und darin fiel mir etwas auf. Mit den schlichten Möbeln und der kruzifixgeschmückten Wand sah es auf den ersten Blick so unschuldig wie immer aus. Doch jetzt wurde das Bild von zwei Paar am Bettgestell baumelnden Handschellen getrübt, und plötzlich tat mir Poppy rückblickend unendlich leid. Offenbar hatte sie unzählige Male so getan, als wäre sie ein kleines Mädchen, das sich mit Gewalt von irgendeinem alten Mann entjungfern ließ.
»Sie sollten hier nicht sein.« Als wäre ich ein gefährlicher Schadstoff, scheuchte mich ein Plastikanzugträger in den Flur zurück.
Über
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