Blutiger Engel: Thriller (Ein Alice-Quentin-Thriller) (German Edition)
unberührten Toast. Ich fragte mich, ob er von den Absichten seines Stellvertreters, mich feuern zu lassen, wusste, doch dies war der falsche Augenblick für eine Unterhaltung über dieses Thema.
»Stephen Rayner hat uns sein kleines Geheimnis enthüllt«, erklärte er. »Nachdem ich Ihre Nachricht über Freibergs Besuch bei Poppy erhalten hatte, habe ich ihn gefragt, was er über Poppy weiß, und da kam alles raus. Nachdem er einmal angefangen hatte, hat er geredet wie ein Wasserfall.«
»Und was hat er erzählt?«
»Nachdem er auf der Arbeit mitbekommen hätte, wie jemand erzählt hat, Poppy wäre das Lieblingsmädchen des großen Bosses, hätte er ihre Adresse rausgefunden und wäre dann an zwei bis drei Abenden pro Woche in die Raphael Street gefahren, um Kingsmith zu fotografieren. Er wollte ihn mit den Fotos erpressen, falls die Bank versuchen sollte, ihn zu feuern. Aber dann ist ihm ein Fehler unterlaufen, denn auf irgendeiner Party hat er einem Freund davon erzählt, und ein paar Tage später wurde ihm die Kamera aus seinem Büro geklaut. Auf der Bilder von einem halben Dutzend Angel-Angestellter einschließlich sämtlicher Opfer waren.«
»Und Sie denken, dass der Killer diese Aufnahmen als Blaupausen benutzt. Und dass jeder aus der Bank, der in letzter Zeit bei Poppy war, auf seiner Liste steht.«
Bevor Burns mir eine Antwort geben konnte, klingelte sein Handy, und schon nach dem ersten Satz des Anrufers riss er entsetzt die Augen auf. Gleich nach Ende des Gesprächs steckte er sein Handy wieder ein.
»Henrik Freiberg ist verschwunden.«
Während wir in seinen Wagen stiegen, machte er ein grimmiges Gesicht, und ich wusste, dass er daran dachte, dass auch Freiberg regelmäßig zu Poppy gegangen war. Rayner hatte also vielleicht auch von ihm ein Bild vor ihrem Haus gemacht.
Ich dachte während der Fahrt an Stephen Rayner. Er war davon überzeugt gewesen, dass sein Boss sein einziger Verbündeter gewesen war. Vielleicht hatte er geglaubt, nach Greshams Pensionierung wären auch seine Tage bei der Bank gezählt. Als ich mit ihm geredet hatte, hatte er in höchstem Maß labil auf mich gewirkt. Falls der Angel Killer wirklich seine Aufnahmen als Vorlage benutzte, brächten ihn die Schuldgefühle sicher um.
Als wir ins West End kamen, sah ich aus dem Fenster. So viele Millionäre wie in Mayfair lebten nirgendwo anders in der Stadt, doch die Leute auf der Straße wirkten fest entschlossen, sich nicht ansehen zu lassen, wie betucht sie waren. Die meisten waren unkonventionell und etwas abgerissen gekleidet, wie Künstler oder Schauspieler in einer Drehpause.
Burns bog in eine schmale Straße ein, von deren Ende aus sich mir ein freier Ausblick auf den Hyde Park bot, Freibergs Heim jedoch sah irgendwie verfallen aus. Es war ein verschachteltes Gebäude mit einem Gewirr aus Dachvorsprüngen, und das Klettergerüst vor dem Haus wies auf die Kinderfreundlichkeit seiner Bewohner hin. Die Frau, die uns empfing, musste mit ihren dunklen, tiefliegenden Augen einmal wunderschön gewesen sein. Sie war Mitte fünfzig, hatte eine rundliche Taille und schimmerndes, kastanienbraun gefärbtes Haar. Sie führte uns ins Wohnzimmer, wo eine junge Frau mit vor Sorge angespannter Miene vor dem Fenster stand.
»Das ist meine Tochter Rina«, stellte Mrs Freiberg sie uns vor.
Ich nahm auf einem abgewetzten Sofa Platz und entdeckte den Grund für die Abnutzung. Auf dem Kaminsims standen unzählige Aufnahmen von Kleinkindern und Babys. In der Mitte prangte ein Porträt von Freiberg, der mit einem wohlwollenden Lächeln auf die ganze Schar heruntersah. Ich fragte mich unweigerlich, wie seine Frau wohl auf die Nachricht reagieren würde, dass er jede Woche auf dem Heimweg vom Büro ein Vermögen ausgegeben hatte, um mit einer anderen ins Bett zu gehen.
»Können Sie uns sagen, was passiert ist, Mrs Freiberg?«, fragte Burns.
»Nennen Sie mich doch bitte Sonia.« Ihr Lächeln legte sich, und plötzlich sah sie noch verhärmter aus. »Heute Nacht um drei bekam Henrik einen Anruf, und danach stand er auf und verließ das Haus. Ich dachte, dass etwas mit einem der Kinder ist, aber sie sind alle wohlauf.«
Rina hielt die Hand ihrer Mutter fest, als liefe sie ihr andernfalls davon. Ich versuchte, mir Freiberg vorzustellen, wie er entspannt in einem von den durchgesessenen Sesseln saß. Seine Körpersprache in der Angel Bank war sehr zurückhaltend gewesen, und obwohl der Druck, unter dem er in seiner Funktion als Kingsmith’ rechte
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