Blutiger Engel: Thriller (Ein Alice-Quentin-Thriller) (German Edition)
auf.«
Sein Lächeln war wieder verflogen. Darren wurde immer aufgeregter, öffnete den Mund, klappte ihn dann aber wieder zu, als hätte ihn die Fähigkeit zu sprechen urplötzlich verlassen, und noch während ich auf den Alarmknopf drücken wollte, durchquerte er bereits den Raum.
Ich stand auf, um mich verteidigen zu können, und die Zeit blieb stehen. Ich hatte gefühlte Stunden Zeit, um mir die Spinnentätowierung, die sich über seinen Hals erstreckte, anzusehen. Als seine Fingerspitzen meine Hand berührten, fühlten sie sich fiebrig an, und sein Gesicht war mir so nah, dass ich die scharfen Linien zwischen den Pupillen und Iriden sah.
»Ihnen wird nie wieder jemand weh tun«, raunte er mir heiser zu. »Das verspreche ich.«
Dann verschwand Darren so schnell, wie er gekommen war. Meine Beine zitterten noch immer, doch das Einzige, was er zurückgelassen hatte, war der beißende Geruch von Panik und von Kleidern, die seit längerem nicht mehr gewaschen worden waren. Ich hatte das Gefühl, dass er meine Hilfe haben wollte, selbst wenn er nicht in der Lage war, darum zu bitten. Deshalb müsste ich ihn dazu bringen, dass er noch einmal wegen einer Diagnose zu mir kam. Ich gab seinen Namen in meinen Computer ein und ging den Eintrag durch. Darren Campbell, zwanzig Jahre, arbeitslos. Vater unbekannt und nach dem Tod der Mutter, als er neun gewesen war, Unterbringung in einem von katholischen Nonnen geleiteten Kinderheim. Dann hatte er ein Jahr im Jugendstrafvollzug verbracht, weil er vor einem Pub auf einen Kumpel losgegangen war. Das Opfer war erst Wochen später wieder aus dem Koma aufgewacht, aber Darren hatte steif und fest behauptet, der Mann hätte ein ihm bekanntes Mädchen vergewaltigt und die Schläge deswegen verdient. Ich scrollte mich zum Ende des Berichts. Als Adresse war ein Obdachlosenheim angegeben – was nichts anderes hieß, als dass er ohne festen Wohnsitz war. Ich kannte das Gebäude in der Fann Street unweit der U-Bahn-Station Barbican. Ein gesichtsloser Betonkasten mit winzig kleinen Fenstern, durch die nirgendwo ein Baum zu sehen war. Schwer vorzustellen, dass jemand dort gedieh.
Ich schaltete meinen Computer aus und starrte aus dem Fenster. Es war wenig überraschend, dass er unter einer Störung litt. Schließlich hatte die Vergangenheit ihn davon überzeugt, dass man Ungerechtigkeit am besten mit Gewalt bekämpfte, und das konnte ich durchaus verstehen. Schließlich würde auch ich manchmal am liebsten meine Faust gegen die Flurwand krachen lassen, wenn ich sehen musste, wie mein Bruder litt.
In der Mittagspause schleppte ich mich in ein türkisches Café in der Borough High Street. Lola war schon dort und machte sich über einen Teller voll Falafel her. Sie hatte das gepflegte Aussehen einer verwöhnten Katze, als sie sich genüsslich einen Bissen zwischen ihre vollen Lippen schob, und ich war froh, dass ich nicht abgesagt hatte, obwohl in der Klinik haufenweise Arbeit auf mich wartete. Darren hatte meinen Vormittag getrübt, aber meinen Nachmittag verdarb er mir nicht.
»Du hast Neuigkeiten, stimmt’s?«
»Er ist perfekt, wenn auch vielleicht ein bisschen jung.« Sie trank einen Schluck Orangensaft. »Neunzehn.«
»Meine Güte, Lo. Ein Teenager.«
Sie wirkte kurz verlegen, fing dann aber derart schallend an zu lachen, dass es sicher auch noch draußen auf dem Bürgersteig zu hören war. »Er heißt Neal, und er ist einfach wunderbar. Wobei er mich bei meinem Glück wahrscheinlich bald schon gegen einen drallen Teenie tauschen wird.« Sie schwärmte mir noch einen Augenblick von ihrem jungen Knaben vor, wandte sich danach aber der Frage zu, weshalb ich Single war. »Das Problem ist, du weißt nicht mehr, wie man flirtet, stimmt’s?«
»Wirklich, Lo, ich bin noch nicht mal auf der Suche.«
»Dabei würde schon ein kleines Lächeln reichen, und die Kerle lägen reihenweise vor dir auf den Knien. Los, probier’s mal aus. Bei dem Ober da drüben, bevor du deine Macht über die Männer vollkommen verlierst.«
Ich sah sie flehend an, aber sie ließ sich nicht erweichen, und so fragte ich sie seufzend: »Der Große da neben der Tür?«
Sie nickte. »Los, lass ihn die geballte Kraft deines Charmes spüren.«
Ich brauchte ihn nur anzusehen, der Rest ging von allein. Denn er brach das Eis und lächelte zuerst.
Kurzfristig vergaß ich selbst den Schmerz in meinem Brustkorb, der mich immer noch so flach wie möglich atmen ließ.
Lola tätschelte mir stolz die Hand. »Siehst du? Es
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