Blutiger Engel: Thriller (Ein Alice-Quentin-Thriller) (German Edition)
als ich. Die Frau mir gegenüber fand es faszinierend, dass ich Psychologin war, und erzählte mir von ihrem irren Onkel, der immer gerne nackt auf seinem Anwesen herumgesprungen war, bis er irgendwann in eine Anstalt eingeliefert wurde. Währenddessen trug das Personal eine nicht endende Folge von verschiedenen Gängen auf: geschmortes Lamm, silberne Tabletts voll fein geschnittenen Rinds und drei neue Sorten Wein. Ich nahm die anderen nur noch verschwommen wahr, obwohl ich mich beim Alkohol zurückgehalten hatte, und mir wurde klar, dass der Versuch, hier irgendwas herauszufinden, völlig sinnlos war. Die Mitglieder des Clubs hatten die Reihen fest geschlossen, denn sie hatten nicht die Absicht, irgendwelchen völlig Fremden ihre vielleicht düsteren Geheimnisse zu offenbaren. Nach der Nachspeise aus Erdbeeren, Sahne und Baisers – ein Traditionsgericht des ehrwürdigen Eton-Colleges – sehnte ich mich nach einem starken Kaffee. Flüchtig verspürte ich den Impuls, einfach loszustürzen und das erste Taxi zu nehmen. Denn inzwischen waren alle wieder aufgestanden, um ihre Beziehungen zu pflegen, bis die Reden begannen.
Ich plante also meine Flucht, als plötzlich wieder Andrew Piernan vor mir stand.
»Wie wäre es mit einer Führung durch das Haus?«
Ich blickte lächelnd zu ihm auf und erhob mich etwas schwindlig von dem Wein. Er legte eine Hand auf meinen Arm, da ich anscheinend sichtbar schwankte, und sah mich abermals mit einem breiten, etwas schiefen Lächeln an, als ich auf seine Frage nach möglichen Plänen für das Wochenende zugab, außer einem kurzen Abstecher ins Riverside Theatre, um dort meine Freundin Lola zu besuchen, hätte ich nichts weiter vor. Dann setzten wir uns in Bewegung, doch im selben Augenblick stürzte Burns, das Handy an sein Ohr gepresst, aus dem Foyer.
»Wir müssen sofort los, Alice«, erklärte er, und ich wandte mich Piernan zu.
»Ich fürchte, die Arbeit ruft. Auf die Führung muss ich wohl leider verzichten.«
»Aufgeschoben ist nicht aufgehoben, hoffe ich.« Lächelnd blickte er auf mich herab und wandte sich zum Gehen.
Inzwischen hatte Burns meinen Ellbogen umklammert und zerrte mich wie eine Randaliererin, die von ihm festgenommen worden war, hinter sich her. Draußen war es immer noch so warm, dass mir das Atmen schwerfiel, und die Abgase der vielen Autos hatten den normalerweise in der Luft enthaltenen Sauerstoff ersetzt.
Kaum waren wir losgefahren, hörte man im Funkgerät das Krächzen von verschiedenen Stimmen. Sie bellten sich Befehle zu, und ich hatte keine Ahnung, ob mein Unbehagen das Ergebnis meiner Angst oder des Alkoholgenusses war. Ich umklammerte den Rand meines Sitzes, schluckte meine Übelkeit herunter und stieß heiser aus: »Was ist passiert?«
»Der verdammte, denkbar schlimmste Fall ist eingetreten«, knurrte Burns. »Er hat noch einmal zugeschlagen, wie ich es gesagt habe. Ich setze Sie zu Hause ab und sehe mir die Sache an.«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich komme mit.«
Er verzichtete darauf, mir zu widersprechen, und wir rasten weiter über das Embankment, vorbei an der HMS Wellington, deren silberne Geschütztürme im Licht der Straßenlampen glitzerten.
Als wir nach Cheapside kamen, war dort keine Menschenseele mehr zu sehen. Der Finanzdistrikt der Stadt leerte sich normalerweise abends gegen sechs, denn mit den Banken schlossen dort auch sämtliche Cafés.
Burns parkte unweit der Gutter Lane. Er atmete tief durch und schob sich seine Brille auf die Nase, als er eine Ambulanz, zwei Streifenwagen und den Van der Spurensicherung dort stehen sah. Zwei Polizisten spannten bereits Absperrband quer über die Einfahrt zu der schmalen Gasse, und mit stolzgeschwellter Brust erschien Taylor am Tatort. Als er mein Cocktailkleid bemerkte, ließ er seinen Blick an mir hinunterwandern, wandte sich jedoch am Schluss mit einem knappen Nicken seinem Vorgesetzten zu.
»Na, aus gewesen, Boss?« Das letzte Wort hängte er nach einer so langen Pause an, als wäre er erst nachträglich darauf gekommen, wer da vor ihm stand.
»Wir haben gearbeitet«, erklärte Burns ihm knapp. »Was ist hier passiert?«
»Dieses Mal hat er sein Opfer richtiggehend abgeschlachtet. Der Kerl ist eindeutig pervers.«
Bevor wir uns der Leiche nähern durften, zwang Pete Hancock uns, Schutzanzüge anzuziehen. Dabei hatte ich die Dinger immer schon gehasst. Der dünne Plastikstoff juckt fürchterlich, man fühlt sich wie in Pergamentpapier gehüllt, und der ganze Körper heizt
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